Nichts weniger als einen "Staatsstreich" sehen diese proeuropäischen Demonstrantinnen in London im Verhalten des britischen Neo-Premiers Boris Johnson.

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Donald Tusk hat recht behalten: Als beim EU-Sondergipfel im April im Kreis der Staats- und Regierungschefs hitzig darüber diskutiert wurde, um wie viel der ursprünglich für 31. März 2019 geplante EU-Austritt Großbritanniens wegen der politischen Lähmung in London aufgeschoben werden soll, sprach sich der Ständige Ratspräsident für eine möglichst lange Verlängerung aus, am besten um ein Jahr.

Die britische Politik sollte genug Zeit haben, zuerst einmal mit sich selber klarzukommen, vielleicht ein zweites Brexit-Referendum abzuhalten oder über den bereits im November 2018 vereinbarten EU-Austrittsvertrag abzustimmen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hielt hart dagegen: Die Taktiererei der Briten sei inakzeptabel. Die EU-27 dürften sich nicht aufhalten lassen, man müsste selbst handlungsfähig bleiben, die neue Kommission müsse alle antreiben und Jean-Claude Junckers Team am 1. November ablösen, so der Franzose.

Backstop bleibt unverrückbar

Man einigte sich "auf die Hälfte", legte den 31. Oktober 2019 als spätestmöglichen Termin für den EU-Austritt fest. Idealerweise sollte alles früher über die Bühne gehen. Und die Regierungschefs der EU-27 bekräftigten erneut, was sie in mehreren Dokumenten seit 2016 unmissverständlich festgehalten hatten: Am EU-Austrittsvertrag selbst (der lange Übergangsfristen und die Absicherung der rechtlichen Situation von Bürgern und Wirtschaft dies- und jenseits des Ärmelkanals vorsieht) werde nicht gerüttelt.

Über ein neues Handelsabkommen werde erst nach geordnetem Brexit verhandelt. Das Sicherheitsnetz der offenen Grenzen zwischen Irland und dem britischen Nordirland ("backstop") sei unverrückbar. Punkt. Die Sache nahm ihren Lauf. Die damalige Premierministerin Theresa May einigte sich mit den EU-Partnern.

Seither ist in Großbritannien viel passiert, aber im Grunde hat sich in der Sache Brexit nichts geändert. May trat im Juni zurück und wurde von dem bulligen Boris Johnson ersetzt.

Zuspitzung in London

Während Unterhaus, EU-Parlament und Kommission in die Sommerpause gingen und die inzwischen gewählte neue EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen daran ging, ihr neues Team und das Programm bis 2024 aufzubauen, stellte Johnson alle Abmachungen wieder infrage – bis zum vorläufigen Höhepunkt in der Nacht auf Dienstag beim "Bruch" mit dem Unterhaus in London.

Er hatte auch in Brüssel nichts Neues "geliefert", trotz der Bitte der deutschen Kanzlerin Angela Merkel. In Brüssel und in den EU-Hauptstädten grübelt man nun, ob man etwas beitragen könnte, um einer Lösung näherzukommen. Manche hoffen darauf, dass der neue britische Premier gleich wieder stürzt – sei es durch Misstrauensantrag, sei es bei den von ihm ins Visier genommenen Neuwahlen im Oktober. Dann könnte man seitens der EU-27 "großzügig" sein und eine neuerliche Verzögerung des Brexits beschließen, wofür Einstimmigkeit nötig ist.

Leicht wird das nicht, denn Macron möchte hart bleiben, wie er vor zwei Wochen betonte – es sei denn, das sei "sachlich begründbar" durch neue Entwicklungen.

Formell wäre alles kein Problem: Wenn die Staats- und Regierungschefs es beschließen, ließe sich am Brexit-Prozess bzw. am Mandat dazu einiges ändern. Allerdings: Der britsche Premier muss mitspielen. Stellt er keinen Verlängerungsantrag, würde Artikel 50 der EU-Verträge am 31. Oktober automatisch greifen, UK wäre dann Ex-Mitglied der EU.

Auch vor diesem "Unfall" eines ungeregelten EU-Austritts hatte Tusk bereits im April gewarnt. Das hat dazu geführt, dass die Kommission die "Hausaufgaben" diesbezüglich erledigt hat: Notmaßnahmen wären binnen Tagen abrufbar. Aber bis es dazu kommt, können die EU-27 nur abwarten und Tee trinken. Die Weichen werden in London gestellt. (Thomas Mayer aus Brüssel, 4.9.2019)