Im fernen Osten Kasachstans unter den Hängen des Dsungarischen Alatau, einem Hochgebirge an der Grenze zu China, lag vor über 5.000 Jahren eine Ansiedlung. Die Überreste der Ausgrabungsstätte Dali, die Archäologen seit Jahren untersuchen, lassen auf damals erstaunlich weit reichende Handelsbeziehungen dieses Ortes schließen. So belegen Genanalysen tierischer Knochenfunde von dort, dass die Nachfahren der ersten im Nahen Osten domestizierten Schafe und Ziegen Zentralasien um 2700 vor unserer Zeitrechnung erreicht haben. Die Hirse, die sie an ihre Nutztiere verfütterten, stammte dagegen aus China.
Der Einzug der Herdentierhaltung machte auch eine höhere Mobilität notwendig: Den Jahreszeiten folgend zogen die Menschen häufig zwischen unterschiedlichen Weideplätzen umher. Dabei wird es wohl auch vermehrt zu überregionalen Kontakten gekommen sein. Dali dürfte von seiner Lage am sogenannten innerasiatischen Gebirgskorridor, einer uralten Wanderroute vom Altai in Siberien bis zum Hindukusch, besonders profitiert haben.

Hinweise auf umfangreiche Wanderbewegungen
Das zumindest lassen DNA-Untersuchungen menschlicher Gebeine aus dieser Zeit vermuten. Die von einem Team um Michael Frachetti von der Washington University an Funden aus Dali durchgeführten Analysen weisen das prähistorische Dali gar als Indikator für einen interkontinentalen kulturellen und genetischen Wandel zwischen der frühen und späten Bronzezeit aus: Unter den Vorfahren der an diesem Ort beigesetzten Menschen befanden sich gleichermaßen nordeuropäische Jäger und Sammler wie Landwirtschaftstreibende aus dem Iranischen Hochland.
Dali repräsentiert freilich nur ein winziges Steinchen des komplexen dynamischen Mosaiks vorgeschichtlicher Populationsverhältnisse in Europa und Asien. Eine Vielzahl neuer Puzzelteile konnte nun eine internationale Gruppe mit einer umfassenden Vergleichsstudie quer über den Doppelkontinent hinweg beisteuern. Diese bislang größte Untersuchung alter menschlicher DNA, an der auch Wissenschafter um Ron Pinhasi von der Universität Wien beteiligt waren, ergab völlig neue Details darüber, welche Bevölkerungsgruppen vor 12.000 bis 2.000 Jahren in Zentral- und Südasien lebten und wie sie sich untereinander vermischt haben.

Konkret analysierten die Archäologen, Genetiker und Anthropologen bei dem integrativen Großprojekt die Genome von 524 zuvor noch nie untersuchten Individuen. Die Resultate wurden untereinander und mit früher sequenziertem Erbgut verglichen und mit archäologischen, sprachlichen und historischen Informationen in Zusammenhang gebracht. Zwei außergewöhnliche kulturelle Veränderungen standen dabei im Zentrum der Studie: der Wandel von der Jäger- und-Sammler-Kultur zur Landwirtschaft und die Ausbreitung der indoeuropäischen Sprachen.
Große Sprachfamilie mit unklaren Wurzeln
Mit über 400 Mitgliedern gelten die Indoeuropäischen Sprachen als die größte Sprachfamilie der Welt. Zu ihr zählen Hindi/Urdu, Bengali und Persisch ebenso wie die slawischen Sprachen, Englisch, Spanisch oder Gälisch. Wie sich Abkömmlinge dieser Sprachgruppe so weit ausbreiten konnten, wird bis heute in der Fachwelt diskutiert. Eine Möglichkeit, die "Steppe-Hypothese", geht davon aus, dass die Sprache von Hirten aus der eurasischen Steppe in die Welt hinausgetragen wurde. Die "Anatolische Hypothese" dagegen setzt auf frühe Bauern, die von der heutigen Türkei nach Osten und Westen zogen.
Das im Fachjournal "Science" vorgestellte Ergebnis der aktuellen Genstudie favorisiert für Südasien klar die "Steppe-Hypothese". "Wir können eine Ausbreitung von Bauern mit anatolischen Wurzeln nach Südasien ausschließen", sagt David Reich von der Harvard Medical School. "Das ist ein Schachmatt für die anatolische Hypothese." Die DNA-Analyse zeigt demnach vielmehr, dass der balto-slawische und der indo-iranische Zweig der indoeuropäischen Sprachgruppe aus einer Untergruppe von Steppen-Viehzüchtern stammen, die sich vor fast 5.000 Jahren nach Europa aufgemacht hat. Innerhalb der folgenden 1.500 Jahre wanderten die Nachfahren dieser Population wieder ostwärts nach Zentral- und Südasien zurück.

Brahmanen mit Steppenursprung
Ein weiterer Hinweis, der laut den Forschern gegen die Anatolien-Hypothese spricht, ist, dass sich genetische Spuren der einstigen Steppenbewohner heute vor allem in einigen Bevölkerungsgruppen Südasiens nachweisen lassen, deren Mitglieder in früheren Zeiten oft als Priester fungierten. Darunter finden sich etwa die Brahmanen, die sich als die traditionellen Hüter der Veden sehen, also jener religiöser Texte, die in der alten indoeuropäischen Sprache Sanskrit verfasst wurden. "Die Feststellung, dass Brahmanen mehr Steppen-Abstammung haben als andere Gruppen in Südasien, liefert ein faszinierendes neues Argument für einen Steppenursprung der indoeuropäischen Sprachen in Südasien", so Reich.
Auch auf eine andere spannende Frage konnten mit der Studie Antworten gefunden werden: Bisher war unklar, ob Landwirtschaft durch Kopieren von Ideen und Techniken ihre Ausbreitung über Eurasien fand oder Populationsbewegungen die treibenden Kräfte dahinter waren. Für Europa haben die DNA-Studien nun ergeben, dass die frühen Ackerbauern ihre Fähigkeiten zusammen mit Einwanderern aus Anatolien mitbrachten. Im Iran und in Zentralasien zeigt sich eine ähnliche Dynamik. Auch dort kamen Menschen anatolischer Abstammung und die Landwirtschaft ungefähr zur gleichen Zeit an. Die Verbreitung des Ackerbaus in diesen Regionen wurde also auch durch Wanderbewegungen der Menschen angetrieben.

Keine anatolischen Vorfahren in Südasien
Ganz anders sah die Situation dagegen in Südasien aus: Die Wissenschafter entdeckten dort keinerlei Hinweise auf Menschen mit anatolischen Vorfahren. Die Forscher schließen daraus, dass die Landwirtschaft in Südasien nicht auf die Zuwanderung von Menschen zurückzuführen ist – jedenfalls nicht auf Menschen aus den früheren Bauernkulturen des Westens. Stattdessen nahmen die lokalen Bevölkerungen diese Wirtschaftsform vermutlich von außen an. "Vor der Ankunft der Steppen-Viehzüchter, die ihre indoeuropäischen Sprachen vor viertausend Jahren brachten, finden wir keine Hinweise auf große Bevölkerungsbewegungen nach Südasien", so Reich. (tberg, red, 9.9.2019)