Wien – An eine Fahrt kann Johann sich noch besonders gut erinnern: an die im Mai 2017, als er die Ladefläche voller Osterhasen hatte. "Aber die guten, die von Lindt", sagt er, "noch ein halbes Jahr waren die haltbar." Seit zwei Jahren fährt Johann ehrenamtlich für die Wiener Tafel durch Wien. Er holt Essen ab, das die einen nicht mehr brauchen, und bringt es zu anderen, die froh darüber sind.

"Die Brücke schlagen zwischen Überflussgesellschaft und Bedarfsgesellschaft" nennt die Wiener Tafel das. Sie wird am Montag zwanzig Jahre alt und ist nach eigenen Angaben die älteste Tafelorganisation Österreichs. 600 Tonnen rettete die NGO allein im Jahr 2018, 20.000 Armutsbetroffenen in etwa 100 Sozialhilfeeinrichtungen wurde geholfen.

Wiener Verschwendung

Jedes Jahr werden in Wien 70.000 Tonnen Lebensmittel weggeworfen, so die Wiener Tafel. Auf der anderen Seite sind 14 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher armutsgefährdet, zeigen Daten der Armutskonferenz.

Heute hat Johann keine Osterhasen im Mercedes Sprinter, sondern Obst, Gemüse und Fertig- essen. Schachteln voll mit Ananas, Knoblauch, Gurken, und Eiern sind neben Kartons voll verpackter Japan Bowls, Salatdressing und Schokosauce geschlichtet. Manchmal liefert er Bestellungen aus, doch heute fährt er in seiner Tour einzelne Einrichtungen an, die sich dann aussuchen, was sie brauchen.

Fahrer aus Leidenschaft

Neben Johann sitzt Klaus. Klaus schaut, während Johann fährt. Beide sind ältere Männer und haben lichtes Haar, beide tragen Jeans und helle Warnwesten mit dem Tafellogo drauf. Beide sind die ruhige Art von Mensch.

Gemüse muss nicht ungenießbar sein, weil es über dem Mindesthaltbarkeitsdatum ist. Der Mensch hat Sinne, die das erkennen.
Foto: Scherndl

Außer wenn es ums Busfahren geht. Dann zählt Johann in spektakulärer Geschwindigkeit auf, welche Linien er früher in Wien gelenkt hat. Noch früher war er Fernfahrer, seit 40 Jahren sitzt er hinter irgendeinem Steuer. Als vor zwei Jahren befunden wurde, dass er ohne Hörgerät zu schlecht hört, um Busfahrer zu sein, ging er in Frühpension.

"Etwas Sinnvolles machen"

"Ohne Fahren kann ich nicht leben", sagt er, darum fährt er jetzt für die Tafel. Klaus auf dem anderen Sitz sagt, er engagiert sich einmal die Woche für die Wiener Tafel, denn "wenn du Zeit hast, willst du etwas Sinnvolles machen".

Die Tour der beiden hat am Großmarkt in Inzersdorf begonnen. Dort befindet sich seit zwei Jahren das Tafelhaus. Bald wird am Großmarkt expandiert, dann siedeln auch die Büros aus Simmering nach Liesing.

An der Quelle

Zwischen Hallen und Lkw einquartiert zu sein hat für die Tafel den Vorteil, dass sie an der Quelle sitzt. Allein von den Händlern hier am Großmarkt kommen an manchen Tagen ein, zwei Tonnen, sagt Karlanton Goertz, er ist für die Warenakquise zuständig. Der Rest der Lebensmittel kommt von Händlern im Raum Wien, entweder sie bringen sie her, oder Ehrenamtliche holen sie ab.

In den letzten zwanzig Jahren professionalisierte sich die Tafel, wurde größer, baute eine Logistik auf. Mittlerweile verlangt sie fünf Euro Unkostenbeitrag von den Sozialeinrichtungen, wenn sie ihnen das Essen liefert. Seit 2005 stellt sie einzelne Mitarbeiter an, bald kauft sie ein fünftes Auto. Um Essen zu beschaffen, sagt Goertz, schaue er, dass er möglichst von den Produzenten kommt – je näher an der Ernte, desto frischer die Ware.

Lebensmittelvielfalt

Draußen vor dem Eingang steht ein ehrenamtlicher Mitarbeiter und zerpflückt Salat. Ein Teil kommt in die Biotonne, ein Teil in eine Holzkiste – und einen Teil bekommt ein Mann, der seine 50 Hasen damit füttert.

Im Inneren des Lagers riecht es nach allerhand: gleich beim Eingang nach muffigen Kartoffeln, sie sind irgendwo zwischen den genießbaren versteckt und wurden noch nicht aussortiert.

Ehrenamtliche Mitarbeiter sortieren die Waren akribisch aus.
Foto: Scherndl

Weiter drinnen, in einem Raum, der manchmal Lagerhalle, manchmal Küche ist, riecht es nach Zwiebeln und Donuts. Hier wird die "Marmelade mit Sinn" gekocht, die zum Beispiel Banken am Weltspartag austeilen. Gerade eben kamen ein paar Kisten von Dunkin' Donuts, sie mussten weg, weil sie 24 Stunden im Geschäft gelegen waren.

Im nächsten Raum riecht es nicht, hier im Kühlraum sind die meisten Lebensmittel verpackt: Margarine neben Kürbissuppe, vakuumierte Wurstenden neben Superfood.

Marktamt kontrolliert

Rechtlich gelte die Tafel als Handels- oder Gastronomiebetrieb, sagt Sprecher Markus Hübl. Man werde genauso vom Marktamt kontrolliert und zur Rechenschaft gezogen, wenn ein Schaden entstehe. Bisher sei das aber nie der Fall gewesen. Dennoch fordert die Tafel, dass soziale Organisationen von der Haftung ausgenommen werden. In anderen Ländern sei das bereits der Fall.

Wieder auf dem Fahrersitz, startet Johann den Wagen, den Weg zur nächsten Einrichtung, einem Eltern-Kind-Heim, kennt er auswendig. Michael Jackson läuft im Radio, er klopft mir dem Zeigefinger ein paar Takte aufs Lenkrad. Ob er glaube, er solle für seine Arbeit hier bezahlt werden? "Ja schon", sagt er, "irgendwie schon." Aber andererseits müsse er nicht mehr Gemüse einkaufen gehen, seit er hier fährt. (Gabriele Scherndl, 7.9.2019)