Ein Gespenst rät einem anderen Gespenst zu innerer Einkehr: Ulrich Reinthaller (li., als Melzer) und Roman Schmelzer (als Major Laska).

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Der Stoff von Heimito von Doderers Jahrhundertroman Die Strudlhofstiege (1951) entbehrt fast schmerzlich jeder Bühnentauglichkeit. Der Plot ist ebenso verworren, wie die Handlung nach Maßgabe ihrer Anschaulichkeit unerheblich bleibt. Eine Belebung dieses Gebildes, dessen Faszination vor allem von der Tiefe seiner nach Hunderten zählenden Lesestunden ausgeht, wird auch nach zweieinhalb Stunden Salonkonversation – mit Josefstädter Zungenschliff – kein bisschen plausibler.

Angehörige der Wiener Jeunesse dorée taumeln töricht unernst in den Ersten Weltkrieg. Als unheilbar Versehrte gehen sie aus der Katastrophe hervor: eigentümlich schaumgebremst wie der untertitelgebende Oberleutnant Melzer (Melzer und die Tiefe der Jahre). Dieser ewige Junggeselle (Ulrich Reinthaller) arbeitet, unzulänglich zivilisiert und mit bemerkenswert wenig sozialer Fantasie ausgestattet, als "Amtsrat in der österreichischen Tabakregie" der noch jungen republikanischen Bürokratie zu.

Er bildet im Wiener Josefstadt-Theater eine merkwürdig passive Zentralinstanz. Reinthaller trägt, die blauen Augen wie unter Schock aufgerissen, zu Anfang den Rock eines Oberstleutnants der Wehrmacht. Weil es aber unentwegt Geisterstunde schlägt in Nicolaus Haggs Doderer-Bearbeitung, wird ihm allerlei Zuspruch und Neckerei aus dem Mund eines gefallenen k. u. k. Kameraden (Roman Schmelzer) zuteil.

Verknüpfung von Moral und Gewalt

"Major Laska" will Melzers Empathielosigkeit aufknacken wie eine Nussschale. Nur wenige Jahre nach Ende der Romanhandlung unterwarfen schließlich die Nazis Österreich – unter Mithilfe vieler "Volksgenossen", die jüdische Mitbürger malträtierten.

Man möchte Hagg die kluge Verknüpfung unserer posthum wirksamen Moral mit der unheilvollen Gewaltmentalität derer nach 1918 unbedingt zugutehalten. Allen Bemühungen inmitten steht die Frage nach Doderers eigener Nazi-Verstrickung. Man reibt sich in Janusz Kicas schlackenschwarzer, geradezu beamtenhafter Inszenierung dennoch die Augen. Langeweile ist das unbefriedigendste Konzept, um den latenten Radikalismus des 20. Jahrhunderts in den Blick zu bekommen. Was passiert, ist schneller erzählt, als auszusagen, wie den Figuren geschieht. An der Rax tummeln sich die großbürgerlichen Stangelers, ein Patriarch (Michael König), zwei Töchter, ein Sohn. Die eine Tochter (Pauline Knof spielt sie hochvirtuos, auf Messers Schneide) heiratet einen unerträglich näselnden Berufsdiplomaten (Matthias Franz Stein). Fast versteht man ihren schrittweisen Abstieg in Suff und Wahn und Gezappel.

Intellektueller Partner

Ihr Bruder aber (Martin Vischer) avanciert zum Freizeitphilosophen und gibt apfelessend den intellektuellen Sparringpartner ab für den mediokren Melzer. Die Intrige des zweiten Teils muss man nicht nacherzählen. In ihr spielen eineiige Zwillinge (jeweils Silvia Meisterle) und Rauch- als auch Schmuggelwaren bedeutsame Rollen.

Was am meisten verstört, ist die Unfähigkeit, die Tiefe der Zeit so auszuloten, dass sie auf der Höhe unserer Zeit erscheint. Die Zimmerdecke droht den Pappendeckelkameraden auf den Kopf zu fallen (Ausstattung: Karin Fritz). Der berühmte Straßenbahnunfall der Mary K. – ein Bein geht ab, Melzer rettet ihr das Leben – wird bloß akustisch eingespielt. Welcher Nichtleser der Strudlhofstiege soll dies alles verstehen? Der Schuss am Schluss bläst den versammelten Gespenstern das Licht aus. Dabei hat hier gar niemand gelebt. Zäher Applaus. (Ronald Pohl, 6.9.2019)