1. Die Unsicherheit drückt sich in den Favoriten aus

Zu wetten, wer am Ende das Rennen macht, ist auf Filmfestivals ein beliebter Zeitvertreib. Man muss dabei all die Eventualitäten berücksichtigen, die Jurys zu erwägen haben. Die Tücken kann man dieses Jahr in Venedig gut an den Kritikerfavoriten demonstrieren: Da liegen zwar vier Höhepunkte des Festivals voran, Roman Polanskis J'accuse, Marriage Story von Noah Baumbach, Joker von Todd Phillips und Martin Eden von Pietro Marcello. Doch gegen fast jeden Film lassen sich triftige Argumente finden.

Dass die Jury unter Vorsitz von Regisseurin Lucrecia Martel am Samstag Polanskis präzisen Politthriller um die Dreyfus-Affäre auszeichnet, kann man sich nach der Debatte um seinen "Fall" nur schwer vorstellen. Marriage Story wäre nach Roma im Jahr 2018 schon wieder ein Netflix-Sieger und Joker als zwar zeitgemäß bedrückende Comic-Adaption doch eine kleine Überraschung. Bleibt eigentlich nur Martin Eden, die exzellente Jack-London-Adaption, die mit ihrer Kritik an einem ungehemmten Individualismus auch die Gegenwart Italiens ins Visier nimmt.

Gewinnt "Martin Eden" in Venedig? Mit seiner Kritik an einem ungehemmten Individualismus nimmt der Film auch die Gegenwart Italiens ins Visier.
Foto: Biennale

Oder gewinnt doch Pablo Larraíns Ema, ein etwas verworrener, aber visuell oft eindrucksvoller Film über eine Tänzerin, die sich auf kein traditionelles Rollenbild festnageln lässt? Welcher Film dient als besseres Signal? Die Unklarheit spiegelt letztlich die Unsicherheiten wider, die die 76. Mostra mitbestimmten: von den gesellschaftlichen Verschiebungen, die auch die Hierarchien in der Filmindustrie berühren, bis zur Frage, ob man sein Publikum besser im Kino oder vorm Tablet versammelt. Die Zukunft ist ungewiss.

2. Die Streamingwelt schafft Formenvielfalt

Anders als in Cannes hat man sich in Venedig mit der schönen neuen Streamingwelt schon abgefunden. Als das Netflix-Firmenlogo das erste Mal auf der Leinwand aufpoppte, gab es in der Sala Grande ironisch gemeinten Applaus. Die beiden Filme der Streamingplattform machten aber deutlich, dass das Unternehmen unterschiedliche Formate und Marktstrategien ausprobiert. Marriage Story ist nicht nur einer der besten Filme von Noah Baumbach, sondern in seiner intimen Analyse eines New Yorker Ehepaars, das durch die anstehende Scheidung auf eigene Versäumnisse aufmerksam wird, auch großes Schauspielkino. The Laundromat dagegen versteht "Film" als deutlich kleinere, ja serielle Form, wenn Steven Soderbergh Geldwäsche und Offshore-Praktiken darin in satirischen Episoden häppchenartig aufbereitet.

"Marriage Story" erzählt von einer Trennung: Anwältin (Laura Dern) und Ehefrau (Scarlett Johansson).
Foto: Biennale

Interessanterweise waren es dann Hollywood-Produktionen mit Schauspiel-Acts, die in Venedig aufzeigten, dass auch das Mainstreamkino wieder verstärkt mit künstlerisch eigenwilligen Zugängen liebäugelt. James Gray demonstriert mit seinem Science-Fiction-Film Ad Astra eindrucksvoll, wie man mit einem mythenschwangeren Plot um einen introvertierten Astronauten (Brad Pitt) einen Experimentalfilm im Spielfilmformat drehen kann. Dem STANDARD vertraute der New Yorker Regisseur an, dass er im Vorfeld sogar Filme von Peter Kubelka und Stan Brakhage gesichtet habe. Todd Phillips' Joker dagegen ist ein echter Befreiungsschlag für das routinierte Comic-Kino, in dem der abgehungerte Joaquin Phoenix eine Bigger-Than-Life-Performance für die Ewigkeit liefert.

3. Venedig braucht mehr Gender-Sensibilität

Am vorletzten Tag schickte das Festival die Meldung aus, dass es eine 50:50-Quote erreicht habe -- aber nur bei den Akkreditierungen. Natürlich geht es bei dieser Debatte nicht nur um mehr Frauen im Wettbewerb, sondern um eine Sensibilisierung für Machtstrukturen, die nicht bei Festivals beginnen. Man muss allerdings nur auf das am Donnerstag gestartete Filmfestival Toronto blicken, wo ein ausgewogeneres Geschlechterverhältnis selbstverständlich ist. Bei den Galascreenings sind dort etwa die Hälfte der Filme von Frauen – von Marielle Heller bis Marjane Satrapi.

Shannon Murphys Debüt "Babyteeth" arrangiert pointiert Szenen einer angeknacksten Familie.
Foto: Lisa Tomasetti

Venedig hatte mit der saudischen Regisseurin Haifaa Al-Mansour und der australischen Newcomerin Shannon Murphy nur zwei im Wettbewerb. In The Perfect Candidate erzählt Al-Mansour von einer jungen Ärztin in Saudi-Arabien, die sich nach einer Reihe von Schikanen in der Rolle der Bürgermeisterkandidatin wiederfindet. Das gerät allzu didaktisch und gibt den Figuren zu wenig Raum für Entwicklungen. Shannon Murphys Debüt Babyteeth ist ästhetisch avancierter. Sie hat einen krebskranken Teenager als Heldin, um die herum sie in pointierten Szenen den Rest der psychisch angeknacksten Familie arrangiert. Shannon erzählt das nicht als gefühliges Drama, sondern dem Leben zugewandt, als verkappte Liebesgeschichte. Auch wenn der Film später an Genauigkeit einbüßt: Babyteeth nimmt stimmig eine junge Generation in den Blick.

4. Der programmierte Aufreger ist meistens gar keiner

Festival-Programmierer gehen gerne schematisch vor. Bei Filmen von Frauen sind Frauenrechtsthemen beliebt. Selten im Aufgebot fehlen darf auch ein Film der Kategorie "Aufreger unter besonderer Berücksichtigung menschlicher Niedertracht", selbst wenn er noch so durchschaubar auf Skandal getrimmt wurde. Das war diesmal bei The Painted Bird von Václav Marhoul der Fall, der viele Besucher aus dem Saal getrieben hat. Marhouls Film ist eine Adaption des gleichnamigen Buches von Jerzy Kosinski. Er beschreibt die Odyssee eines jüdischen Buben durch ein nicht näher bestimmtes slawisches Land während des Zweiten Weltkriegs. Jede Station endet mit roher Gewalt und ausgestellter Lust an sadistischer Überschreitung. Von Reflexion keine Spur, inszeniert Marhoul großspurig in Schwarzweiß, mit grellen Hervorhebungen. Doch der Film verdoppelt die Grausamkeit der Welt nur, ohne eine Haltung zu finden.

Roman Polanskis "J'accuse" über einen Staatsapparat, der die Justiz aushöhlt fußt in der Geschichte und findet Analogien zur gegenwart.
Foto: Biennale

Da freut man sich über einen Film wie Polanskis J'accuse. Der findet in der Perfidie eines Staatsapparats, der die Justiz aushöhlt, Analogien zur Gegenwart. Ein Beispiel für einen Film, der mit Sicherheit nicht von der streitbaren Moral des Regisseurs zu trennen ist, während Marhouls Arbeit nur eine Mogelpackung ist, um Aufmerksamkeit zu generieren. Nur Letzteres ist verwerflich. (Dominik Kamalzadeh aus Venedig, 7.9.2019)