Es müssen opulente Feiern gewesen sein, wenn in der kleinasiatischen Metropole Ephesos die Artemisia abgehalten wurden. Bei dem Fest zu Ehren Artemis' traten Redner, Flöten- und Kitharaspieler, Dichter von Lobpreisungen und Komödianten im musischen Wettstreit gegeneinander an, wie aus Inschriften über die Sieger hervorgeht.

Zwar ist der genaue Ablauf der Agon genannten Bewerbe in Ephesos nicht überliefert, wohl aber jener der Feiern in Oinoanda im nahen Lykien. In dieser im Vergleich zu Ephesos völlig unbedeutenden Provinzstadt dauerten die Festspiele volle 22 Tage. Zusätzlich zu den bereits genannten Bewerben maßen sich auch Trompeter, Oboisten mit Chören, Tragödiendichter und diverse Kampfsportler und Leichtathleten. Während des gesamten Festes wurde ein Markt abgehalten – dabei konnte steuer- und zollfrei gehandelt werden. Was für Oinoanda schon ein wirtschaftlich bedeutendes Ereignis war, muss in Ephesos vergleichsweise industrielle Ausmaße gehabt haben. Hier stand der Artemistempel, eines der sieben Weltwunder. Hierher kamen Besucher aus der ganzen antiken Welt.

Von der Pracht des Artemistempels blieb wenig. Nachfolgende Generationen nutzten ihn als Steinbruch, seine Teile finden sich in byzantinischen Bauten ebenso wie in mittelalterlichen.
Foto: ÖAI-ÖAW/Niki Gail

Auf der Erforschung des Tempels lag seit Beginn der archäologischen Grabungen in Ephesos natürlich ein Fokus. Doch über den heiligen Tempelbezirk, der das Weltwunder umgab, ist bis dato vergleichsweise wenig bekannt – ein Umstand, den Lilli Zabrana von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) ändern will. Das vom Wissenschaftsfonds FWF geförderte Zukunftskolleg "Temenos und Territorium. Wirtschaftsmacht und soziale Bedeutung des Artemisions von Ephesos im Römischen Reich" soll offene Fragen klären.

Bei den Zukunftskollegs handelt es sich um ein neues Postdoc-Programm für interdisziplinäre Teams. Die Archäologin und Bauforscherin Zabrana hat für ihr Projekt entsprechend ein Team aus den verschiedensten Fachrichtungen zusammengestellt. Mit den reichlich vorhandenen Inschriften befasst sich die Epigrafikerin Vera Hofmann. Verena Fugger ist Expertin für frühchristliche Archäologie und beleuchtet den Übergang zum Christentum und die damit verbundenen kulturellen Brüche. Pedro Lourenço Gonçalves schließlich ist Geoarchäologe und erstellt Geländeprofile des Tempelbezirks, der seit der Antike von teilweise acht Meter mächtigen Sedimentschichten bedeckt wurde.

Zentrum der Stadt

Im Tempelbezirk befand sich der Motor der Stadt, ihr wirtschaftliches und kulturelles Zentrum. Der Tempel verfügte über ausgedehnte Ländereien, Steinbrüche und Salinen, man betrieb Viehzucht und Weinbau und handelte mit Weihrauch. Hier befand sich auch ein – erst kürzlich von Zabrana identifiziertes – Odeion, wo 1000 Menschen die musischen Agone verfolgen konnten. Der Reichtum basierte nicht zuletzt auf der Funktion des Heiligtums als Bank. Der sakrosankte Status bot sogar so viel Sicherheit, dass Geflüchteten Asyl gewährt werden konnte. Prominenteste Nutznießerin ist Kleopatras Schwester Arsinoë IV., die nach Caesars Sieg in Ägypten jahrelang in Ephesos Schutz fand – bis sie schließlich doch im Auftrag des Marcus Antonius ermordet wurde.

Zabrana geht vor allem der Frage nach, wie es nach dem Ende des Artemiskultes in Ephesos weiterging. Zerstörungen durch Erdbeben, die dramatische Verschiebung der Küstenlinie und die kulturellen Umbrüche am Ende der Antike sorgten für einen fortschreitenden Bedeutungsverlust der Metropole. Der Tempel und seine Bauten hatten ihre Funktion verloren, doch welchen Zwecken diente das Areal bis ins Mittelalter?

Unter Kaiser Justinian wurde das Gelände des Tempelbezirks exzessiv als Steinbruch genutzt. Zahllose Blöcke des hochwertigen Baumaterials der Tempelgebäude wurden für die Errichtung der Johannesbasilika ebenso verwendet wie für einen Aquädukt. Zunächst scheint das Material des Tempels nur für bestimmte Bauprojekte genutzt worden sein, während in späteren Zeiten wohl jeder Zugriff hatte. Im Mittelalter befand sich auf dem Areal jedenfalls ein Handwerkerviertel. Für Zabrana ist die Verwendung der Steine als Spolien ein Glücksfall: Neue Grabungen für das Forschungsprojekt sind nicht nötig. Dies ist ein Vorteil in politisch unsicheren Zeiten, schließlich musste die österreichische Ephesos-Kampagne zuletzt wegen diplomatischer Querelen zwischen Ankara und Wien pausieren.

Fündig wurde die Archäologin jedoch nicht nur vor Ort: Auch in den Depots des British Museum identifizierte sie Blöcke, die ihre Entsprechungen in dem verbauten Material haben und die sie wie bei einem gigantischen Puzzle konkreten Bauten des Tempelgeländes zuordnen konnte. Viele der Steine tragen deutlich sichtbar angebrachte Markierungen. Dabei handelt es sich eventuell um Monogramme der Steinmetze, die das Material für seine neue Bestimmung organisierten. (Michael Vosatka, 10.9.2019)

Das Team des Zukunftskollegs "Temenos und Territorium": Vera Hofmann, Lilli Zabrana, Pedro Gonçalves und Verena Fugger.
Foto: ÖAW-ÖAI/Niki Gail
Plan des Temenosbereiches in Ephesos.
Foto: ÖAI-ÖAW/ Lilli Zabrana
Die Küstenlinie bei Ephesos verschob sich immer weiter nach Westen.
Foto: ÖAI-ÖAW/H. Brückner et al. 2017
Vom Selçuk-Aquädukt stehen noch zahlreichen Pfeiler.
Foto: ÖAI-ÖAW/Lilli Zabrana
Das Artemision-Gelände in einer Luftaufnahme. Im Hintergrund befindet sich das Odeion.
Foto: ÖAI-ÖAW/Niki Gail
Das römische Odeion im Artemisheiligtum.
Foto: ÖAI-ÖAW/Niki Gail
Modell des Odeion im Artemision.
ÖAI-ÖAW/Clemens Landerl, Lilli Zabrana
Die Lage des Odeions, des Artemistempels und des Hafens in der römischen Zeit.
ÖAI-ÖAW/ Christian Kurtze- Lilli Zabrana
Ein Block mit einer Inschrift aus dem Temenos, der sekundär im Aquädukt verbaut wurde.
Foto: ÖAI-ÖAW/Lilli Zabrana
Dieses Kapitell der Johannesbasilika war einst Teil einer Säulentrommel des Artemistempels, bevor es für seine neue Bestimmung umgearbeitet wurde.
Foto: ÖAI-ÖAW/ Lilli Zabrana
Auf der Rückseite des Kapitells ist noch die Säulenkannelur sichtbar, an der Seite die bearbeitete Auflagefläche, die Anathyrose.
Foto: ÖAI-ÖAW/ Lilli Zabrana
Ein dorischer Triglyphenfries macht die Position des Blockes in seinem Vorgängergebäude identifizierbar.
Foto: ÖAI-ÖAW/Lilli Zabrana
Zahlreiche Blöcke tragen eingravierte Markierungen. Diese können als Steinmetzzeichen, Versatz- oder Abrechnungsmarken interpretiert werden. Solche zum Teil idente Markierungen finden sich auch auf Blöcken im Depot des British Museum.
Foto: ÖAI-ÖAW/Lilli Zabrana