Ein Pärchen hat sich auf dem Heiratsmarkt der Kalajdzi in der Nähe von Plowdiw beim Kloster in Batschkowo gefunden.

Foto: Adelheid Wölfl

Der Weg zur Kirche hinauf ist der Catwalk für die Kalajdži-Teenager. Die Mädels und die Burschen aus dem Roma-Clan im Südosten Bulgariens gehen oft in Gruppen zum Kloster der Heiligen Maria, zur Sveta Bogorodica. Sie kichern, sie drehen sich um, sie plaudern ein bisschen, fragen nach Telefonnummern und Facebook-Profilen. Auch wenn man ein superbraves Kalajdži-Mädchen ist, darf man hier und heute hemmungslos Flirten. Schließlich geschieht alles unter den Augen der Eltern und Verwandten – und der Sveta Bogoridca.

In der Orthodoxie wird Mariä Himmelfahrt das "Hochfest des Entschlafens der allheiligen Gottesgebärerin" genannt, denn die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel wurde anders als in der katholischen Tradition nicht dogmatisiert. Das Kloster Batschkovo liegt unweit der Stadt Plovdiv im Herzen Bulgariens, in einem Gebirgstal der Rhodopen. Und weil es hier Leute gibt, die sowohl dem julianischen als auch dem alten gregorianischen Kalender folgen, wird die Entschlafung der Gottesmutter gleich zwei Mal gefeiert: am 15. und am 28. August. Und an beiden Tagen kommen junge Roma hierher nach Batschkovo, um sich näher zu kommen und eine Heirat anzubahnen.

Bis zu 10.000 Euro

Vom Parkplatz bis zur Kirche sind es etwa 200 Meter. Es gibt viele Standln, man kann ein Ketterl für die Auserwählte kaufen oder sich ein Tatoo auf den Oberarm sprayen lassen, was mindestens so beliebt ist. Ein Kalajdži-Junge mit zartem Flaum um die Lippen hat ein schimmerndes goldenes T-Shirt angezogen, um die Mädels auf sich aufmerksam zu machen. Für die meisten Jungs hier ist der Brautpreis aber viel zu hoch. Eine Kalajdži-Frau aus einer "guten Familie" kostet etwa 10.000 Euro. Deshalb zahlen meist die Eltern des Bräutigams.

Die Verhandlungen beginnen nach dem Kennenlernen der Jugendlichen und wenn sie beide einander ihre Liebegold gestanden haben, zu Hause beim Vater des künftigen Bräutigams. Das wichtigste Kriterium im patriarchalen System der Kalajdži ist die Jungfräulichkeit des Mädchens, die zwischen 14 und 18 Jahre alt sein sollte, wenn sie verheiratet wird. "Wenn sie Jungfrauen sind, dann wissen sie nicht, wie es mit einem anderen Mann sein könnte. Wenn sie nur einen Mann in ihrem Leben haben, dann schauen sie sich nicht nach einem anderen um, sondern bleiben an den einen Mann gebunden", erklärt Stojan Dimitrov, ein Mitfünfziger, der neben der Flirtmeile in einem Gasthaus Platz genommen hat, den Grund, warum die Mädels der Kalajdži früh heiraten sollen.

Kontrollieren von Jungfräulichkeit

Bei dem Jungfräulichkeitskonzept geht es darum, dass Männer die Kontrolle über die Frauen behalten wollen. Ihre Entjungferung ist eine Art Besitzergreifung. Die Familien "kontrollieren" auch, ob die junge Frau noch nie Sex hatte. Nach der Hochzeitsnacht wird das Leintuch inspiziert, ob es Blutflecken hat. Wenn die Mädchen jung sind, sind sie unerfahren, nicht nur im sexuellen Sinne, sie sind auch in ihrer Urteilsfähigkeit und damit in ihren Möglichkeiten eingeschränkter. "Da haben sie noch nicht die Augen geöffnet", meint Paschko B., der 26-jährige Cousin von Stojan.

Denn wenn die Frauen sehen würden, dass sie auch andere Männer heiraten könnten, draussen in der Welt außerhalb der Kalajdži und ein besseres Leben haben könnten, dann würden sie sich vielleicht weigern, meint er. Aber auch die Burschen stehen unter Zwang. Neben der Jungfräulichkeit ist bei den Kalajdži auch Endogamie erwünscht. "Man soll eine vom selben Blut heiraten", so Paschko.Der Mann, aus dessen braunen Augen silberne Sterne zu blitzen scheinen, ist selbst ein Kalajdži. Doch das richtige Leben macht ihm das Kalajdži-Sein schwer. Seine Mutter hat zwar Geld zur Seite gelegt, damit er heiraten kann. Aber er hat sich in eine Rumänin verliebt – die nicht den Anforderungen entspricht. Jetzt leidet Paschko.

Sozialer Druck auf junge Menschen

Und auch wenn er es nicht schwer hat an andere Facebook-Profile von Mädels zu kommen, so interessiert ihn das eigentlich wenig. "Meine Mama sagt: Wo sind meine Enkelkinder? Du musst endlich heiraten!", erzählt er von dem Druck, der auf ihm liegt. Die Mutter hat eine Braut ausgesucht, sie sei schön, aber teuer, sie hätte 19.000 Lewa, also fast 10.000 Euro gekostet. "Ich habe gesagt: Mama, lass mich noch ein bisschen leben!" Wenn man Paschko fragt, wie eine Ehefrau sein muss, sagt er: Jung, schön und "weiß". Sie sollte also keine dunkle Haut haben.

Auf seinem Unterarm hat er ein Tattoo: "Es gibt Dinge, die ich für mich behalte, es gibt Dinge, die brauchen noch Zeit", ist da zu lesen. Dabei kann Paschko eigentlich nicht so gut Dinge für sich behalten. Er erzählt von seinem Gefängnisaufenthalt in München, nachdem er mit einem Afghanen in Streit geraten war, er erzählt von seinem gewalttätigen Vater, von seinem gewalttätigen Stiefvater, von dem Bruder, der Kühe, Pferde und Esel verkaufte, obwohl sie den Nachbarn gehörten. Paschko ist ein Kind einer Kalajdži, die mit 17 geheiratet hat.

Abhängigkeit von Männern

"Es geht eigentlich darum, dass man jemanden findet, mit dem man Brot und Salz essen kann", erklärt er. "Miteinander Brot und Salz essen" ist wie ein ewiges Versprechen von Loyalität. Paschko weiß aber, dass die alten Regeln wenig zählen und dass es oft nur ums Geld geht. Er weiß auch, dass die frühe Abhängigkeit seiner Mutter von Männern ein Elend aus Demütigung und Gewalt brachte. Er hat seiner Mama an der Tankstelle einen kleinen Baum aus Draht mit einem Koala-Bären gekauft. Paschko, der junge Mann, der viel zu harten Rap hört, liebt seine Mama. Seine Mama wäre mittlerweile auch einverstanden, wenn er keine Kalajdži heiratet.

In Batschkovo kann man ohnehin sehen, dass die Traditionen langsam zerbröseln. Viele Jugendliche lassen sich nicht mehr einfach so verheiraten, manche kennen Kalajdži, die in Mittel- und Westeuropa leben und wollen aus der Enge der Konventionen ausbrechen.Heute lernen sich die Jugendlichen über Facebook kennen und kommunizieren über Viber oder Whatsapp. In der Zeit der sozialen Medien hat sich der Brautmarkt vom Kloster in Batschkovo ins Netz verlegt.

Facebook-Identitäten

Die traditionellen Treffen von jungen Kalajdži-Roma im Winter in Plovdiv, in Stara Zagora, in Jambol und in Batschkovo sind nicht mehr so wichtig. Paschko etwa, hat einen richtigen Namen, den er in seinem Pass stehen hat, er hat einen Namen unter den ihn alle kennen und er hat einen Facebook-Namen. Denn dem Facebook-Identitäten lebt es sich leichter: Da kann man aus Amerika kommen, obwohl man aus dem Nachbardorf stammt, da kann man studiert haben, obwohl man keinen Schulabschluss hat, da kann man Fotos zeigen, wie man vor fetten glänzenden Autos, die irgendwem anderen gehören.

Heiratswillige Burschen sollten nämlich eine Arbeit, ein Auto und einen Führerschein haben. Es gibt aber viele, die weder das eine noch das andere besitzen. Manche würden deshalb die Mädels entführen, erklärt Stojan. Denn eine Frau, die keine Jungfrau mehr ist, kostet fast gar nichts mehr. Manche Mädchen hier in Batschkovo tragen T-Shirts mit weißen Spitzen, die über die Schultern fallen, andere glitzernde Hasen-Ohren, die an Haarreifen befestigt sind. Ein junger Mann hat zwei silberne Steine im Ohr.

Rap-Fashion vor dem Kloster

Familienväter, die sich hier als Bosse inszenieren, tragen goldrandige dunkle Sonnenbrillen und schwarze T-Shirts manche mit einem Totenkopf darauf. Am wichtigsten sind aber die goldscheinenden dicken Panzerketten um den Hals mit klobigen eckigen Gliedern. Vor einem Markstandl kann man sehen, wie Burschen diese Panzerketten probehalber durch ihre Hände rinnen lassen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie man ein Mann wird. Es ist fast so als wäre Rap-Fashion im Kloster in Batsckovo erfunden worden.

Am Abend bei den Familien in den Dörfern wird bei "Zigeuner-Rap" weiter gefeiert, wie Paschko die Musik nennt. Aus den Lautsprecher-Boxen, die in den Gärten stehen, dröhnt es so laut, dass man sich nicht unterhalten kann. In schwarzen Kesseln über dem Feuer wird Lammfleisch gekocht. Der Schnaps kommt aus der Plastikflasche.

Kein Job und viel Alkohol

Plötzlich zieht einer der Männer die Bierflasche hoch und schleudert sie seinem Gegenüber ins Gesicht. Dann geht es blitzschnell: Die Männer schlagen aufeinander ein, die Mädchen weinen und flehen ihre Väter an, aufzuhören. Die Frauen stehen daneben. Die kleinen Kinder schluchzen. Einige Clanmitglieder setzen sich ins Auto, andere prügeln auf die Frontscheibe ein. Zwei Familien liefern sich mit mit ihren Autos Verfolgungsjagden im Garten. Es ist noch heiß am Abend von Marias Entschlafung. Aber müde ist hier niemand. Die Wut der Männer scheint durch nichts zu bremsen zu sein.

Viele haben keinen Job, viele können nicht lesen und nicht schreiben. Viele trinken viel zu viel Alkohol. Viele werden gehasst. Verteidigungsminister Krasimir Donchev Karakachanov sagte im Jänner, nachdem es zu einem gewaltsamen Streit gekommen war: "Die Zigeuner in Bulgarien sind außergewöhnlich frech geworden. Vor einigen Tagen schlugen sie Polizisten. Vor zwei Tagen haben sie einen Soldaten geschlagen. Das kann nicht so fortgesetzt werden. Die Toleranz der bulgarischen Gesellschaft ist erschöpft. Die Wahrheit ist, dass wir ein komplettes Programm zur Lösung des Zigeunerproblems durchführen müssen." Danach wurden einige Roma-Häuser durch die Polizei zerstört.

Hierarchische Verhältnisse

Unter den Roma gibt es stark hierarchische Verhältnisse. So wie sie selbst ausgegrenzt werden, halten sie sich auch von denen fern, von denen sie glauben, dass sie "unter" ihnen stehen. Für die jeweils andere Gruppe gibt es abwertende Bezeichnungen. Die Kalajdži – früher waren sie hauptsächlich Kesselschmiede – nennen die anderen Fičiri, sie selbst werden wiederum "vlacho" gennant. Der Begriff kommt daher, dass jene, sie walachisches Romanes sprachen, nachdem sie irgendwann die Donau überquert hatten und im heutigen Bulgarien blieben, weil sie vor der Sklaverei in der Walachei geflüchtet waren.

Die wichtigste Unterscheidung in Bulgarien ist jene zwischen den orthodoxen und den muslimischen Roma. Letztere werden auch "türkisch" genannt. Nach dem Zusammenbruch des supranationalen Osmanischen Reichs entstanden auf dem Balkan neue Ethno-Staaten. Das brachte die Minderheiten wie die Roma enorm unter Druck. Denn ab dann ging es darum, dass man am Besten ein "Bulgare" und orthodox sein sollte. Manche Roma entschieden sich dafür, zumindest "Türken" zu werden, weil das in der Hierarchie noch besser ist, als zu den Roma zu gehören. Die, die sich am stärksten an der Mehrheitsgesellschaft orientieren, haben es sicherlich am leichtesten.

Arbeit für Khan Asparuh

Die "Grauen Tauben" etwa, die in einer Seitenstrasse in dem Dorf Chalakovi leben, bestehen darauf, dass sie nichts mit den Roma im Nachbardorf zu tun haben. Ihre Töchter würden frühestens mit 20 Jahren heiraten und verkauft werde hier sowieso niemand. "Das machen nur die Kalajdži! Die nehmen Geld für ihre Töchter", erklären die Frauen, die an der Dorfstrasse sitzen und beobachten, wie sich ein paar Autos durch die Schlaglöcher quälen.Die "Grauen Tauben" stehen in der Hierarchie ganz oben, sie sind besser gebildet und heiraten später. Jungfräulichkeit spielt keine zentrale Rolle.

Die "Grauen Tauben" behaupten, dass sie schon für den Khan Asparuh, der hier im 7. Jahrhundert herrschte, gearbeitet hätten. Die "Grauen Tauben" dürfen mitten im Dorf leben, aber es gibt andere, die jenseits der Gemeinschaft hausen müssen. In Belozem gibt es eine Siedlung gleich neben der Ölraffinerie, die von der Gemeindeverwaltung ignoriert wird. Hier leben die Roma der untersten Kaste.

Verheiratet mit zwölf Jahren

Die 22-jährige Slavka sitzt vor ihrer Hütte auf einer verdreckten Matratze. Ihr Mann bekommt für die Arbeit in einer Fabrik im Monat 350 Lewa, also etwa 175 Euro. Der bulgarische Staat gibt den Familien pro Kind 37 Lewa, also etwa 18 Euro Unterstützung. Das reicht nicht. Die zwei kleinsten Kinder von Slavka haben gar keine Kleidung, keines der fünf Kinder hat Schuhe. Drinnen in der Hütte spuckt der Fernseher immer neue Bilder und Töne aus. Bildung gibt es hier aber gar keine. Beba, die Älteste ist jetzt acht Jahre alt. Sie geht nicht zur Schule. Ihre Mutter Slavka wurde mit zwölf Jahren verheiratet, mit 14 bekam sie Beba, ihr erstes Kind. Ihr sechstes Kind ist sichtlich unterwegs. Wer Slavkas Heirat entschieden hat? Die Eltern.

Die Nachbarin Stojanka sagt, dass es überhaupt keinen Sinn habe, die Kinder in die Schule zu schicken, weil sie dort kein Essen bekommen würden. "Uns bringt das nichts." Das Viertel am Rande des Dorfes ist nur über einen Feldweg zu erreichen, auf dem ein Bub mit einem Pferd galoppiert. Ein paar Frauen kommen gerade vom Feld. Wenn die Paradeiser reif werden, helfen sie beim Ernten, das bringt 15 Lewa am Tag. Aber im Winter gibt es keine Arbeit. Im Moment beschäftigt sie am meisten, dass ihre Schweine alle von den Behörden wegen Seuchengefahr abgeholt und getötet wurden.

Dimitrinkas Traumberuf

Ihre Tochter, die 13-jährige Dimitrinka, in einem grauen Kleid und mit blonden Haaren, sagt leise, sie möchte eigentlich Krankenschwester werden. Aber sie weiß nicht, wo es eine Ausbildungsmöglichkeit gibt. Dimitrinka erzählt, dass sie keine Schulbücher, keine Hefte und keinen Stift habe. "Manchmal gehe ich schon zur Schule, dann setze ich mich dorthin und höre einfach zu", erzählt sie. "Aber schreiben und lesen kann ich nicht." Es gibt Roma-Mädchen in Bulgarien, die sich aussuchen können, wen sie heiraten und wann. Und es gibt Roma-Mädchen wie Dimtrinka, die gar keine Wahl haben. Nach den Regeln ihrer Gemeinschaft, ist sie jetzt im heiratsfähigen Alter. (Adelheid Wölfl aus Batschkovo, 7.9.2019)