Der amerikanischstämmige Historiker Mitchell Ash vermutet in seinem Gastkommentar hinter der Brexit-Politik von Boris Johnson kein Versagen, sondern eine gefinkelte Strategie.

Apropos Analyse des Brexit-Konflikts von Sebastian Borger im STANDARD: Es ist gut, dass hier die Rede ist von Dominic Cummings, der in den britischen Medien wohl mit Recht als Stratege hinter der Kampagne der Brexiteers um Boris Johnson gehandelt wird. Was noch fehlt, ist eine Analyse der Strategie, die Cummings und auch andere Berater und Mitstreiter Boris Johnsons verfolgen. Wichtig ist, sich jetzt nicht vom chaotischen Eindruck der Ereignisse der letzten Tage vereinnahmen zu lassen und die Möglichkeit ins Auge zu fassen, dass selbst die Niederlagen Johnsons im Unterhaus Teil dieser längerfristig angedachten Strategie sein mögen.

In London kam es am Wochenende zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, die eine Ablöse der Regierung forderten.
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Bereits vor Monaten hat der eben von Johnson eingesetzte Parlamentsführer ("Leader of the House") und Radikalbrexiteer Jacob Rees-Mogg in einem Interview mit der "FAZ" die Grundlinien dieser Strategie in hochkarätiger Sprache formuliert: Es handelt sich, so seine damaligen und seitdem ständig wiederholten Worte, um einen Grundsatzkonflikt zwischen der direkten und der repräsentativen Demokratie, konkret zwischen dem Referendumsergebnis und der Auffassung der jetzigen Parlamentsmehrheit. Nach diesem Konstrukt habe "das Volk" für den Brexit gestimmt, komme da, was wolle, während das Parlament, immerhin die Vertretung eben desselben "Volkes", sich dagegenstemmt, das Ergebnis zur Umsetzung zu bringen. Der erste Teil dieser Erzählung ist eine vorsätzliche Lüge; im Text der damaligen Frage zum Volksentscheid steht nichts Genaueres darüber, unter welchen Bedingungen der Austritt Großbritanniens aus der EU erfolgen soll. Genau daher, also über die Frage nach den Bedingungen des Austritts, rührt der Konflikt, der seitdem wütet.

Blick auf den Wahlkampf

Die Strategie der Truppe um Johnson besteht anscheinend darin, den kommenden Wahlkampf, wann immer er beginnt, als Auseinandersetzung zwischen diesem von Rees-Mogg und anderen konstruierten fiktiven "Volke" und "dem Parlament", genauer um die Abwahl des jetzigen Parlaments und dessen Ersatz durch eine neue Volksvertretung, die gewillt sei, den Brexit so oder so zu Ende zu bringen und den vermeintlichen Widerspruch zwischen direkter und repräsentativer Demokratie einvernehmlich zu lösen. Noch genauer geht es darum, möglichst viele Wähler der Brexit-Partei für die Konservativen zu gewinnen – auch um den Preis des Hinauswurfs der moderaten Abgeordneten der Konservativen, wie eben geschehen. Dass es sich dabei um altverdiente Menschen handelt, darunter mehrere ehemalige Minister, ist Cummings und Co offenbar egal.

Nach diesem Konzept gibt es eigentlich keine politischen Parteien mehr, sondern nur zwei Wählergruppen, die "Leavers" und die "Remainers". Nach der Auffassung führender Demoskopen entspricht das der tatsächlichen Lage. Das Ziel besteht also darin, möglichst viele Brexit-Wähler unter dem Banner einer nominell als konservative Partei bezeichneten Entität zusammenzubringen; ob diese Entität diesen Namen verdient, ist zweitrangig, auf den Sieg kommt es an.

Laut aktuellen Umfragen könnte diese Strategie tatsächlich aufgehen. Der einzige Weg, sie zu durchkreuzen, besteht darin, eine taktische Allianz zwischen der Labour-Partei und den Liberaldemokraten zu schmieden, nach der die Wähler der jeweiligen Partei für die Kandidaten der jeweils anderen in den Wahlkreisen stimmen, welche die besten Chancen haben. Gelegentlich haben sich britische Wähler tatsächlich so verhalten, doch ist so etwas in Großbritannien zwischen politischen Parteien noch nie vereinbart worden, obwohl solche Allianzen in Frankreich zumindest beim zweiten Wahlgang des dortigen zweistufigen Verfahrens gang und gäbe sind. Werden die vermeintlich pragmatischen Briten es über sich bringen, so etwas diesmal zu wagen? In Zeiten wie diesen scheint alles möglich, also warum nicht? (Mitchell Ash, 9.9.2019)