Der Innsbrucker Psychotherapeut Josef Christian Aigner sieht in seinem Gastbeitrag im laufenden Wahlkampf die Grundlagen unseres Zusammenlebens bedroht.

Noch ist der Höhepunkt des Wahlkampfs gar nicht erreicht, müssen wir schon eine eigentlich deprimierende Bilanz ziehen. Die gewohnten Klagen über die Politikverdrossenheit vieler Bürger und der Jugend erscheinen dabei geradezu läppisch angesichts dieser "Dirtiness" und der zutage tretenden Verlogenheit – vor allem der Ex-Regierung. Da braucht sich niemand mehr, der über die ethische Verwahrlosung gegenwärtiger Politik klagt, auf den bösen Trump oder den sich an Präsident Macrons Ehefrau reibenden brasilianischen Chefmacho Bolsonaro beziehen. Die politischen Spitzen unseres eigenen Landes demonstrieren eine Falschheit und Lügenhaftigkeit, dass einem wahrlich "schwarz" vor Augen wird.

Entweder wird die Öffentlichkeit schlicht für blöd verkauft, wenn etwa der juvenile Alt-Kanzler meint, die Millionenspende der Frau Horten oder die halbe von KTM-Boss Pierer hätten keinerlei Einfluss auf die türkis-schwarze Politik. Auch das beharrliche Wegreden des Ibiza-Skandals durch Strache, Hofer und natürlich Kickl, als ob die bösen Videofilmer das eigentliche Problem wären und nicht die Korruptheit der (ehemaligen?) FPÖ-Spitze, gehört in diese Kategorie. Dass und wie rechte Rülpser und Reden (Kickl oder Stenzel bei den Identitären) verharmlost und als Einzelfälle hingebogen werden, kommt ebenfalls einer politischen Verlogenheit erster Klasse gleich.

Alles Gute kommt von oben? Zustände wie in Großbritannien finden sich in Österreich noch nicht. Aber ungemütlich wird es im Wahlkampf auch hierzulande.
Foto: Matthias Cremer

Das Ansinnen und Sich-benutzen-Lassen einer renommierten Schauspielerin, die sich in einer Art großmütterlichem Schwärmen vor Kurzens Karren spannen lässt und dabei das politische Handeln der SPÖ-Vorsitzenden Rendi-Wagner öffentlich als "verblödet" angreift, passt ebenfalls in diese Art politischer Verwahrlosung (sowohl der Anstifter als auch Frau Hörbigers selbst). Und dass der Klubobmann der ÖVP im Nationalrat, Wöginger, bei einer Wahlkampfveranstaltung in Ried im Innkreis das Publikum mit "Scheißts auf die Umfragen!" vor Siegessicherheit warnt, zeugt vom Einschwenken auf unterstes blaues Niveau, das im Innviertel traditionell gut anzukommen scheint.

Auch karrieresüchtige Sozialdemokraten wie der Tiroler Dornauer zählen dazu, einer also, der – nie um eine Ausrede verlegen – die Fahne in jeden vermeintlich günstigen Wind hängt und dies am Tag darauf (wie sein Interview für ein Rechtsextremen-Blatt) blauäugig relativiert.

Obskure politische Verwechslungskomödie

Den Vogel schießen dennoch Kurz und sein Beraterstab ab, etwa indem sich die ÖVP für Kurz wortident einer Parole des geschassten Koalitionspartners für den FPÖ-Hetzer Kickl bedient: "Einer, der unsere Sprache spricht!" Eine wahrlich obskure politische Verwechslungskomödie. Dass sich Kurz dann zum offiziellen Wahlkampfstart mit dem ukrainischen Ex-Boxer und Kiewer Bürgermeister Witali Klitschko ausgerechnet einen Politiker aus einem Land holt, das vor Korruption nur so strotzt (und leidet), kann man ohne große Anstrengung als unfreiwillige Selbstüberführung deuten. Unter diesen Umständen ist es dann kein Wunder, dass Hacker-Angriffe auf ÖVP-Daten, die Ungereimtheiten der Parteifinanzen erklären sollen, von vornherein als fälschender Deal verdächtigt werden – eigentlich auch ein trauriges Bild innenpolitischer Unkultur.

Und so hagelt es in diesen Wochen geradezu Anzeigen und Ermittlungen gegen Spitzen der Republik (neben den Freiheitlichen auch gegen Leute wie Ex-Finanzminister Löger), wogegen die tapfere Übergangsregierung als geradezu langweilig erscheinen muss, weil hier keine provokanten Falschheiten, Anpatzereien oder korrupte Deals passieren.

Diese Verlogenheit und das widerwärtige Für-blöd-Verkaufen von Wählern gefährdet neben dem Infragestellen politischer Grundrechte (etwa durch Kickl) tatsächlich die Demokratie: Niemandem kann wirklich mehr getraut werden, das ist das jämmerliche Bild, das die herrschaftsgewohnten Parteien heute abgeben. Von diesem diffusen Unbehagen, wo sachliche Argumente und Vorhaben, auf die man sich verlassen kann, nichts mehr zählen, profitieren dann gefährliche und möglicherweise sogar persönlichkeitsgestörte Typen, die sich auch an die Spitze der mächtigsten Länder der Erde setzen – und zwar per "Demokratie", die angesichts dieses Lügensystems unter Anführungszeichen zu setzen ist.

Diesen Verwahrlosungserscheinungen muss spätestens heute in aller Entschiedenheit entgegengetreten werden. Aber von wem? (Josef Christian Aigner, 9.9.2019)