Die Europäische Union blickt gebannt auf das ins politische Chaos versunkene Großbritannien und hofft nach dem Regierungswechsel auf eine Stabilisierung der Lage in Italien. Der Apparat wartet vor allem gespannt auf die Neubesetzungen in der EU-Kommission. Die chronischen Problemfälle Ungarn und Polen werden dementsprechend auf die lange Bank geschoben. Die Regierungen in Budapest und Warschau erwarten von der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von den Leyen sogar eine Atempause und eine Mäßigung des Tons.

Indessen bahnt sich jedoch in Südeuropa zwischen der Türkei, Griechenland und der EU eine sehr gefährliche Krise an, die den Umgang mit den Flüchtlingen, Asylbewerbern und Migranten wieder schnell in den Mittelpunkt der europäischen Politik rücken könnte. Der eigentliche Brandstifter ist zwar der innenpolitisch geschwächte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, aber man darf die Selbstblindheit der betroffenen EU-Staaten nicht vergessen, die diese dazu verleitet hat, den Ernst der Lage in der Türkei und in Syrien zu verkennen.

Spaltungstendenzen

Angesichts der wachsenden Unzufriedenheit, der Spaltungstendenzen in der Regierungspartei und der Erfolge der Opposition bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul und Ankara will der bedrängte Erdogan den innenpolitischen Druck durch die Eröffnung einer neuen Front gegen die EU in der Flüchtlingsfrage vermindern. In einer öffentlichen Rede drohte er kürzlich offen: Die Türkei werde gezwungen sein, die Türen zu Europa zu öffnen, wenn die EU bei der Einrichtung einer "Schutzzone" im Norden Syriens, in der Flüchtlinge angesiedelt werden könnten, nicht hilft. Die internationale Gemeinschaft unterstütze die Türkei nicht genügend bei der Unterbringung und Versorgung der offiziell registrierten 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien.

Der innenpolitisch geschwächte türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan.
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Es geht um das Schicksal jenes im März 2016 auf Drängen Angela Merkels geschlossenen Abkommens zwischen der EU und der Türkei, das die Zahl der Menschen, die über die Türkei und Griechenland nach Westeuropa wandern, entscheidend reduziert hat. Innerhalb weniger Wochen gingen die Ankünfte auf den Ägäis-Inseln von monatlich 60 000 auf knapp 3000 zurück. Für die Kontrollen an der Küste erhält die Türkei von der EU sechs Milliarden Euro Flüchtlingshilfe.

Die Umsetzung der Verpflichtungen durch die EU und durch Griechenland hat jedoch nie richtig funktioniert. Weder hat die EU, wie versprochen, 54.000 syrische Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa umgesiedelt, noch hat Griechenland in nennenswerter Zahl Migranten von den Inseln in die Türkei zurückgeschickt. Nicht zufällig wächst seit Anfang dieses Jahres die Zahl der Migranten aus der Türkei auf den Inseln in den bereits überfüllten Lagern. Die Zahlen verleihen den Warnungen Erdogans eine zusätzliche Brisanz. Ohne massive Hilfe der EU können die griechischen Behörden das Asylverfahren nicht beschleunigen. Zugleich wollen 80 Prozent der Türken, dass die Syrer das Land wieder verlassen. Die neue griechische Regierung beginnt mit der Teilübersiedlung von Lesbos aufs Festland. Bleibt die EU untätig, könnte die Lage auch zulasten des Westens schnell außer Kontrolle geraten. (Paul Lendvai, 9.9.2019)