Die Fahne Großbritannien weht im stürmischen Wind.

"Schämt Euch!": Mitternacht war längst vorbei, als den vielen außergewöhnlichen Begebenheiten dieses langen Tages im Londoner Unterhaus eine letzte Szene hinzugefügt wurde. Mit dem Sprechchor "shame on you" bedachten Oppositionsvertreter die Mitglieder der konservativen Regierungsfraktion auf ihrem Weg zum Oberhaus, wo die kürzlich beschlossene Zwangspause offiziell verkündet wurde. Demonstrativ verharrten Sozial- und Liberaldemokraten, schottische und walisische Nationalisten sowie die einzige Grüne auf ihren Plätzen.

In normalen Zeiten gehört die sogenannte Prorogation (lateinisch für Aufschub) – eine kurzzeitige Pause im Parlamentsrhythmus, die nach einigen Tagen mit einer neuen Regierungserklärung endet – zur Routine. Was aber ist in diesen Zeiten schon normal?

Premier Boris Johnson hat die Prorogation zweckentfremdet, hat aus einer kleinen Atempause eine lange Zwangspause gemacht, und das mitten in der grössten politischen Krise seit dem zweiten Weltkrieg. Mit energischem Widerstand müssen der Regierungschef und sein stets auf Krawall gebürsteter Hausmeier Dominic Cummings gerechnet haben, ja in gewisser Hinsicht provozierten sie ihn sogar. Dass ihr rabiater Kurs aber den Alterspräsidenten des Unterhauses, den neunten Herzog von Wellington und Winston Churchills Enkel aus der Partei treiben würde; dass daraufhin Johnsons bis dahin loyaler Bruder mitteilte, der Premierminister handele gegen das nationale Interesse, wird kaum im Skript verzeichnet gewesen sein.

Neue Allianzen

Erkennbar erzeugt der Druck aus der Downing Street Gegendruck, ringen sich noch vor kurzem streitende Oppositionsparteien zu einer einheitlichen Linie durch, entstehen in gemeinsam durchgestandenen Abstimmungsnächten neue Allianzen. In vier Sitzungstagen hat das Unterhaus dem Leiter einer Minderheitsregierung sechs Niederlagen beigebracht, dabei zweimal seine Forderung nach einer Neuwahl abgelehnt. Fünf Wochen lang muss das Parlament nun zwangsweise pausieren; die drei Großbritannien-weiten Parteien Liberaldemokraten, Labour und Torys veranstalten unterdessen ihre alljährlichen Parteitage und sammeln eifrig Geld.

Denn bald – wohl noch in diesem Jahr – kommt natürlich doch ein Wahlkampf. Darauf zielt Johnsons Handeln ab: Er will möglichst viele Brexit-Anhänger um sich scharen und mit eigener Mehrheit regieren. Das dürfte sehr viel besser gelingen, wenn der EU-Austritt auch wirklich vollzogen ist. Unter umgekehrten Vorzeichen gilt dies auch für Labour: Nur wenn das unbequeme Thema Europa gelöst ist, können die Sozialdemokraten mit ihren Themen soziale Gerechtigkeit und Klimakrise durchdringen.

Ein Deal liegt auf dem Tisch. Johnson sollte ihn, vielleicht geringfügig verändert, dem Parlament erneut vorlegen. Andernfalls verlässt das Land die Brüsseler Gemeinschaft im Chaos ohne Vereinbarung. Dann würden die Bürger ihren politisch Verantwortlichen "Schämt Euch!" zurufen. (Sebastian Borger, 10.9.2019)