St. Petersburg, die Stadt an der Mündung der Newa, wurde unter Peter dem Großen auf 42 Inseln erbaut.

Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

Mindestens zweimal tanzt man in heimischen Gefilden in der russischen Botschaft an, bevor man mit ausgehändigtem Visum den Fuß auf russischen Boden setzt. Genauer gesagt St. Petersburger Boden.

Präzisieren muss man hier deshalb, weil sich die Stadt an der Newamündung noch nie mit dem bloßen Ruf einer russischen Großstadt zufriedengegeben hat. Denn St. Petersburg spricht mehrere Sprachen. Die des russischen Pomps, die des Erbes der Sowjetunion, und immer lauter wird der Ruf der europäischen Städtetripdestination, die Reisende mit vibrierendem Nachtleben und Foodie-Tempeln in die Stadt lockt.

Schon die Fahrt vom Flughafen in die Stadt lässt an diesem attraktiven Freakstatus keinen Zweifel. Da geht es vorbei an gleich mehreren übergroßen Statuen Lenins, der der Stadt vor 1991 und nach 1924 seinen Namen lieh. In der Zeit hieß die Stadt Leningrad.

St. Petersburg, die Stadt an der Mündung der Newa, wurde unter Peter dem Großen auf 42 Inseln erbaut.
Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

Die Stromkabel, die sich zu Hunderten über den Straßen verkreuzen, prägen das Bild der Stadt über den Autos, die sich ins Zentrum wälzen. Manche Kabel sind mit bunten Glühbirnen bestückt, die sich dann um einen Gastgarten ranken, wie er in Berlin stehen könnte.

Frauen im Bikini gönnen sich am Stadtstrand einen Drink, und andere posieren im Hochzeitskleid vor Peter dem Großen, dem Gründer der Stadt. Er wacht als baumhoher schwarzer Reiter über seine Hood.

Auf Sumpf setzen

St. Petersburg war schon immer anders. Beginnend damit, dass es dort erbaut wurde, wo niemand außer sein Gründervater Peter der Große auch nur eine Siedlung für möglich gehalten hätte. Auf Sumpf erbaut ist St. Petersburg heute ein Sammelsurium aus 42 Inseln. Geboren aus der taktischen Idee, den Finnischen Meerbusen aus russischer Warte zu sichern.

Den Breitengrad teilt sich die Stadt mit Oslo und Stockholm sowie mit der südlichen Spitze Alaskas. Daher auch die White Nights, die, je nördlicher man gerät, zur Mitternachtssonne werden. Sie sind neben dem türkisgoldenen Hermitage-Museum – mit das am besten bestückte Museum der Welt – eine der Hauptattraktionen der Stadt. Das mit nichts vergleichbare Licht undunkler Nächte, das sich in den Kanälen der Stadt, des "Venedig des Nordens", widerspiegelt, ist tausenden Touristen eine Reise wert.

"Eine Reise wert" – das ist übrigens auch die Definition, die der Guide Michelin einem Restaurant zuspricht, an das er drei Sterne vergibt. Noch gibt es zwar keinen eigenen Guide Michelin für Russland und damit auch kein Drei-Sterne-Restaurant. Dafür aber eine wachsende Anzahl an Lokalen, die mit demselben Anspruch kochen.

Ganz ohne Dutt

Der einzige Koch Russlands, der auch in der internationeln Food-Szene breite Bekanntheit genießt, ist Vladimir Mukhin. Er steht dem Restaurant White Rabbit in Moskau vor. Mal mit Dutt, dann wieder abrasiert und über und über mit Tattoos bestückt, entspricht er dem Bild eines jungen Revoluzzerkochs.

Er gilt und spricht von sich als der Erneuerer der russischen Küche. Der internationalen Liste der "S.Pellegrino 50 Best Restaurants" war seine Art, zu kochen, heuer Platz 13 im weltweiten Ranking wert. Sogar vielgereisten Foodies fällt auf die Schnelle kein zweiter russischer Koch ein. Dabei gibt es so einige, die ganz ohne Dutt Großartiges auf die Teller bringen. Insbesondere in St. Petersburg.

Findige Köche

Damit das nicht länger ein Geheimnis bleibt, wurden vor vier Jahren erstmals die "Gourmet Days St. Petersburg" veranstaltet. Internationale Köche und St. Petersburger Köche kochen an mehreren Locations, an mehreren Tagen Hand in Hand. 2019 gaben sich Köche aus Bangkok, Paris, Lima, Singapur und von den Philippinen die Ehre.

Natürlich lassen sich auch internationale Journalisten, Kochkollegen und Kritiker dieses Treffen nicht entgehen, touren in die Stadt und bemerken: Das ist alles andere als übel, was sich hier kulinarisch tut. Und das trotz oder gerade wegen des Handelsembargos auf landwirtschaftliche Produkte aus dem Ausland, das Präsident Putin im Jahr 2014 erließ.

Es war die russische Antwort auf westliche Sanktionen, die wiederum als Reaktion auf die Annektierung der Halbinsel Krim zurückgehen. Heute sehen die findigen Köche darin einen Vorteil. Für die Gastronomie wie für die Produzenten, die ihr Fisch, Fleisch und Gemüse wohl ohne dieses Einfuhrverbot nicht in der Art an den Mann gebracht hätten.

Embargo sei Dank

Evgeny Vikentev, Executive Chef im Hamlet und Jacks, unterschreibt die positiven Effekte, die das plötzliche Ausbleiben von Langusten und Co nach sich zog, zu 100 Prozent. Der Russe ist froh über das Embargo, stolz mit den Produkten seines Landes zu arbeiten. In puncto Tattoos steht er seinem Moskauer Kollegen Mukhin um nichts nach.

Hamlet & Jacks wird von Evgeny Vikentev kulinarisch bespielt. Er spielt mit dem Kontrast aus regionaler und internationaler Küche.
Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

Sein Hamlet und Jacks wirkt wie die umgebaute Werkstatt Dr. Hydes. Gusseiserne Fenster, zerschlagene Fliesen, eine offene Küche aus Edelstahl. Dazu warmes Licht, Holztische und das offene Lächeln des Chefs, das geschätzte 20 Jungköche mit tatkräftigem Blick erwidern.

Die nächste Generation der St. Petersburger Kochgarde will. Und kann. Zu Tode gegarter Kohlgatsch und Rote Rüben in Schwabbelkonsistenz kommen dem 30-jährigen Vikentev nicht über die Schwelle.

Das schmeckt

Hier bringen die Lieferanten Produkte für Gerichte wie das "Murmansker Lachsfilet mit Sellerie und Fichtennadelöl" oder "Rote-Rüben-Cheesecake mit Lebkuchenkruste und Braterdäpfel-Eiscreme" aus der Nähe heran. Und das schmeckt. So gut, dass man auch in Berlin nicht auf Vikentevs Essen verzichten wollte.

Im Hamlet & Jacks gibt es beispielsweise "Foie Gras, Maiscreme, Curry- und Kakao-Biskuit".
Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

Und der junge Unternehmer somit im Oktober letzten Jahres sein Restaurant Cell in Berlin eröffnete. Sein Leitspruch ist wahrscheinlich auch nicht unschuldig am Erfolg des St. Petersburgers: "Drink wine, don't give up", steht auf dem T-Shirt geschrieben, das Vikentev trägt. Der Tausendsassa betreibt auch noch eine Vinothek. Das erwähnt er beim finalen Händeschütteln noch beiläufig.

Elegante Gerichte

In großen Strukturen, wie man es von Russland kennt, denkt man nämlich augenscheinlich auch in der St. Petersburger Gastronomie. So hat sich die Ginza-Investorengruppe, in Russland ein bunter Hund mit zahlreichen Restaurantkonzepten, mit dem Restaurant Repa ein Fine-Dining-Denkmal in der Stadt gesetzt.

Als kulinarische Spitze konnten sie niemanden Geringeren als Igor Zorin gewinnen. Er gilt in Expertenkreisen als der Erneuerer der russischen Cuisine, und das ganz ohne Dutt oder Tattoo. Seine Gerichte schreien auch nicht, dafür sind sie zu elegant.

Chefkoch Igor Zonin widmet sogar den Namen seines Restaurants hinter dem Marinsky-Theater der Rübe, im Russischen "repa".
Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

So kommt "Rote Rübe mit Pilzketchup und Molkesauce" beispielsweise in dunklen Erdtönen daher und legt sich wie Samt auf die Zunge. Als Erfrischung zwischendurch gibt es "Moltebeere-Kvass". Ein Getränk, das in Russland traditionellerweise aus Roggenbrot gewonnen wird. In diesem Fall ist der malzige Drink gepimpt mit dem säuerlich-rotfruchtigen Aroma der Moltebeere, einer Beerenart, die in Österreich gar nicht vorkommt.

Die heimischen Produkte waren für ihn schon immer Inspirationsquelle Nummer eins, sagt er. Und ja – auch Kohl zählt zur russischen Küche. In Zorins Interpretation als Terrine mit hausgemachtem scharfem Käse in Kombination mit Zedernmilk kommt einem die Assoziation mit matschigen Kohlköpfen gleich gar nicht in den Sinn.

"Geschmortes Wildschwein mit glasiertem Rotkraut".
Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

Die Robin Hoods der St. Petersburger Gastro-Szene sind die Brüder Arslan and Murad Berdiyev sowie Tatyana Kryakunova and Alexander Sanzhimitupov. Sie sind keine Investorengruppe. Vielmehr haben die Freunde gemeinsam ein Restaurant eröffnet: ihr Birch.

Bestechend ist der unkomplizierte Zugang des Teams zum Kochen. Wie sonst wird aus einem Gericht aus Tomaten mit Tomatensauce mit etwas Koriander ein Gedicht, das wahrscheinlich als "das" Gericht der Gourmet Days 2019 in die Geschichte eingeht?

Birch ist das Projekt vier junger Köche, die mit einer Leichtigkeit komplexe Gerichte wie "Krabbenbisque mit Gamba-Wontons" zubereiten, dass es eine reine Freude ist.
Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

Kreationen wie "Krabbenbisque mit Gamba-Wontons" oder "Thunfisch-Ceviche mit Nektarine" punkten mit derselben Klarheit in Produktauswahl und Machart. Es verwundert also nicht, dass dieses Restaurant Monate im Voraus ausgebucht ist.

Es wird von Gästen aus aller Welt und insbesondere von Moskauer Gourmets frequentiert, machen doch die Preise für gutes Essen in St. Petersburg nur einen Bruchteil derer in Moskau aus. Auch das ist ein Grund für St. Petersburg als Foodie-Stadt des Nordens.

"Krabbenbisque mit Gamba-Wontons"
Foto: Gourmet Days St. Petersburg / The Repa, Ginza Group / Birch / Hamlet & Jacks

Und weil hier modernes Denken schon lange auf den Tellern angekommen ist. Ein Grund für das Team aus Dmitry Blinov and Renat Malikov, bekannt als "Duoband", auf ein Restaurant mit Gemüse- und Nachhaltigkeitsschwerpunkt zu setzen.

Neueinsteiger

In dem Restaurant, das sie davor eröffnet hatten, der Tartar-Bar, wird das russische Gericht aus fein geschnittenem rohem Fleisch abgefeiert. Nun ist Gemüse der Star. Rein vegetarisch ist es zwar nicht, das Harvest, aber fast. Was soll einem in raffinierten Gerichten wie "Kohl mit schwarzer Trüffel" oder "Risoni-Pasta mit grünen Zwiebeln" auch weiter abgehen?

Das sahen die Tester der internationalen 50-Best-Liste genauso und setzten Harvest als Neueinsteiger auf Platz 92. Ein weiterer Schritt der internationalen Foodie-Welt auf Terrain, in dem es definitiv noch viel mehr zu kosten gibt. (Nina Wessely, RONDO, 7.1.2020)