Mit dem Antreten der neuen EU-Kommission wird nicht einfach nur eine neue Führung der Union in Brüssel installiert. In den kommenden Jahren dürfte substanziell ein neues Kapitel aufgeschlagen werden: politisch; in Tonfall und Stil, wie Politik gemacht wird; vor allem bei der Setzung inhaltlicher Prioritäten.

Die männerdominierte EU-Zentralbehörde wird weiblicher in dem Sinn, dass Frauen mit Männern auch ganz oben an der Macht gleichgestellt sind. Mehr Teamgeist und projektbezogene, die Ressorts übergreifende Arbeit soll gelten, weniger die Hierarchie. Ganz so, wie das in den meisten erfolgreichen Betrieben, da und dort sogar in nationalen Verwaltungen längst läuft.

Und die EU soll endlich den Turbo einschalten, was die zwei derzeit wohl wichtigsten Grundfragen der Menschheit betrifft: wie man den Klimawandel systematisch, nicht nur punktuell bewältigt; und wie die Gesellschaft ihre Transformation durch die immer schnellere und tiefere Digitalisierung aller Lebensbereiche übersteht, ohne dass breiter Wohlstand, Arbeit für möglichst alle, nicht zuletzt Grundwerte und Demokratie dabei auf der Strecke bleiben. Sozialmodell Europa.

Das wurde bei der Präsentation des Teams von insgesamt 26 Kandidatinnen und Kandidaten für ein Kommissarsamt, das die neue Präsidentin von der Leyen vorstellte, sehr klar. Sie will "konkrete Antworten" geben, "Ergebnisse liefern", sagte sie in ihrer fast zwei Stunden dauernden Pressekonferenz. Große Visionen fehlten.

Vorleistungen für Wohlverhalten

Manches scheint in Details bei der Kompetenzverteilung unklar. Es ist auch sehr unsicher, dass alle Kandidaten bei Anhörungen im Europäischen Parlament akzeptiert werden. Es gibt Schwachstellen. Bei mindestens drei Anwärtern gibt es "Abrechnungsprobleme", sprich Korruptionsverdacht aus früheren Tätigkeiten. Aber die Grundsäulen stehen.

Ursula von der Leyen, Präsidentin der neuen EU-Kommission.
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Und die lassen sich durchaus positiv an, bedenkt man, wie umstritten und schwierig die Kür von der Leyens wegen des Streits der Regierungschefs mit dem Parlament war. Wesentlich für den Erfolg wird sein, ob von der Leyen sich gegen die machtbewussten Regierungschefs durchsetzen kann. Sie will das erreichen, indem sie auf Ausgleich und Balance achtete, nicht nur bei der Geschlechterparität. Alle drei Parteienfamilien, die sie stützen, also Christ- und Sozialdemokraten sowie Liberale, sind gemäß ihrer Stärke gerecht bedacht worden. Wichtige Ämter werden mit Osteuropäern besetzt, der Wirtschafts- und Eurokommissar wäre ein Italiener. Das sind alles Vorleistungen für Wohlverhalten.

Von der Leyen ist im Ton trocken – ganz anders als Jean-Claude Juncker, der gerne "die großen Linien der Weltpolitik" oft voller Ironie zeichnete. Nicht nur diesbezüglich wird man sich bei der Wahrnehmung der neuen Kommission umstellen müssen.

Mit dem EU-Austritt der Briten schrumpft das gemeinsame Europa: von 507 Millionen Einwohnern auf nur noch 440 Millionen. Es wird – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch – automatisch schwächer. Die Europäer des Kontinents werden sich also kollektiv noch mehr anstrengen müssen, wenn sie in der Welt führend mitspielen wollen. Wenn ihre gemeinschaftliche Behörde versagte, sähe es bald düster aus. In 20, 30 Jahren ist sogar Deutschland global "mini".

Juncker wollte 2014 mit einer "politischen Kommission" die Trägheit überwinden. Am Ende ist er froh, dass die EU nicht zerbrochen ist. Von der Leyen muss deutlich mehr liefern. (Thomas Mayer, 10.9.2019)