Messner: "Niemand kümmert sich darum, was eigentlich Bergsteigen ist. Es ist die Auseinandersetzung der Menschennatur und der Bergnatur auf der anderen Seite. Diese findet im Grunde nur stark statt, wenn wir den Berg unberührt lassen."

Foto: APA/EXPA/JOHANN GRODER

"Das Zurückkommen ist wie eine Wiedergeburt, weil ich mich fast bis zum Tod exponiere und in der Lage bin, dank meiner Fähigkeiten, aber vor allem dank des Selbsterhaltungstriebes aus dieser tödlichen Situation zurückzukommen."

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Reinhold Messner sitzt bei drückender Schwüle tiefenentspannt auf einer Bank aus versteinertem Holz aus Madagaskar. Hinter ihm ein Gemäuer der fein renovierten Ruine Schloss Sigmundskron bei Bozen, das als Zentrum der Messner-Mountain-Museen fungiert. Vor ihm erscheinen laufend Besucher mit gezückten Handys: "Herr Messner, bitte, Herr Messner..." Die als Fotomotiv geschätzte Bergsteigerlegende setzt sich seit langem nicht nur für die Erhaltung der Bergwelten ein, Messner hat sich auch als Beleuchter und Kritiker der nationalsozialistischen Einflussnahme auf seine Zunft einen Namen gemacht und dies in Büchern aufgearbeitet. Der Südtiroler empfing den Standard knapp vor seinem 75. Geburtstag zur Audienz.

STANDARD: Wann waren Sie zuletzt bergsteigen?

Messner: Ich war den ganzen Juni in den Bergen rund um den Nanga Parbat. Ich habe dort hoch oben in den einsamen Tälern vier Schulen gebaut, die habe ich besucht. Und ich war auch bergsteigen. Aber ich habe keine Notwendigkeit, in meinem Alter zu zeigen, was ich nicht mehr kann. Auf den Everest mit Sauerstoff und drei Sherpas, die ziehen, geht immer noch, aber das ist nicht mein Ziel.

STANDARD: Sie bezeichnen dies als Tourismus von der Stange.

Messner: Es ist legitim, es muss nur als das beschrieben werden, was es ist. Die unteren Regionen sollen auch weiterhin nach heutigen Möglichkeiten gestaltet und Tourismus betrieben werden. Was steht, das steht, da hängen auch Arbeitsplätze dran. Aber jetzt bauen sie eine Piste bis auf den Gipfel des Everest, das kostet Millionen. Die Leute werden bestens akklimatisiert, haben im Basislager Sauna, Fernseher und Dusche. Es wird diskutiert, ob man nicht die Genehmigungsgebühr auf 35.000 Dollar hinaufsetzen soll, damit nicht mehr alle das machen können. Der bescheidene, junge Bergsteiger, der sich am Everest messen will, ist dann ausgegrenzt. Das Geld kassieren die nepalesische Regierung und die Reisebüros. Die Nepali kriegen nicht viel.

STANDARD: Das Bild von Menschen, die am Gipfelgrat des Mount Everest Schlange stehen, ging vor kurzem um die Welt. Ließen sich derartige Staus vermeiden?

Messner: So schlimm wie heuer war es noch nie, weil das Zeitfenster knapp war. Es gibt nur eine Lösung, die Medien müssen weltweit ganz genau beschreiben, wie es läuft. Dann ist die Anerkennung für etwas, was sie gemacht haben, weg. Sie fotografieren sich allein am Gipfel und behaupten, sie wären allein dort oben gewesen. Sie suggerieren, dass sie es in Eigenständigkeit gemacht haben, wissen aber genau, dass es eine Farce ist.

STANDARD: In Ihrem Buch "Rettet die Berge" kritisieren Sie den zunehmenden Event-Charakter des Bergsteigens. Freut Sie nicht, dass viele Menschen nun die Natur entdecken?

Messner: Es gibt nicht mehr so viel Frieden bei der Almhütte. Daneben muss ein Klettersteig, eine Aussichtsplattform sein, sonst kommen die Leute nicht. Sie gehen dorthin, wo ein Event stattfindet. Aber der Berg ist ja an sich schon die größtmögliche Bühne. Es gibt immer weniger, die wirklich auf den Berg rauf steigen, die meisten klettern. Das ist ein großartiger Sport und die Alpenvereine werden mehr und mehr Sportvereine, auch weil sie damit am Kuchen des Sports mitpartizipieren können. Niemand kümmert sich darum, was eigentlich Bergsteigen ist. Es ist die Auseinandersetzung der Menschennatur und der Bergnatur auf der anderen Seite. Diese findet im Grunde nur stark statt, wenn wir den Berg unberührt lassen. Wenn ich mit der Seilbahn rauf fahre, habe ich keine Ahnung, wie groß der Berg ist.

STANDARD: Sie behaupten, die Erhabenheit der Berge gehe verloren. Wie ist das zu verstehen?

Messner: Ein Berg, auf den eine Menschenkolonne von 150 Leuten rauf geht, hat die Erhabenheit schon verloren. Was soll das? Die oberen 2000 Meter bis auf die Gipfel haben nur als Wildnis einen Wert, sonst ist es nur mehr Spielfläche für Fit for Fun. Die Staaten sollten beschließen, dass genug erschlossen wurde.

STANDARD: Aber versucht nicht der Mensch seit jeher, die Natur zu zähmen?

Messner: Schon, aber das können wir nicht, das hört am Berg auf. Wir können einen Berg zähmen, indem wir eine Seilbahn, eine Straße, Hütten rauf bauen. Aber die großen Berge sollten wir lassen, wie sie sind, dann tragen sie alle Werte in sich, um die allermeisten Bergsteiger auszugrenzen. Viele kriegen Angst und gehen nicht hinauf, dann sind die Bergsteiger völlig vernünftig verteilt. Die Massen sind nur dort, wo es Infrastruktur gibt. Also: keine Infrastruktur, kein Overtourismus. Aber die Politiker haben nicht den Mut, das zu machen.

"Wir können einen Berg zähmen, indem wir eine Seilbahn, eine Straße, Hütten rauf bauen. Aber die großen Berge sollten wir lassen wie sie sind, dann tragen sie alle Werte in sich, um die allermeisten Bergsteiger auszugrenzen."
Foto: Standard/Hirner

STANDARD: Ein unmögliches Unterfangen?

Messner: Ein großes Projekt wie eine Seilbahn auf einen schönen Berg findet mehr Wählerstimmen, weil ein ganzes Dorf dahinter steht. Politik ist leider von Wählerstimmen abhängig und da ist der Populismus nicht weit. Nicht nur Heinz-Christian Strache und Matteo Salvini sind Populisten, auch Horst Seehofer hat gesagt, er sei stolz, Populist zu sein, weil er die Verpflichtung habe, für das Volk etwas zu tun. Aber ein Politiker hat dann und wann auch die Verpflichtung zu sagen, das Volk durchschaut das nicht und hier müssen wir anders entscheiden, als es eine Volksabstimmung ergeben würde. Volksabstimmungen sind mit Vorsicht zu genießen, weil sie die Demokratie aushöhlen. Es kann eine Zeitung gewinnen, oder eine Gruppe, die das Internet beherrscht.

STANDARD: Manche Kritiker bezeichnen Sie als Miturheber des Massentourismus in den Bergen. Woher kommt dieser Vorwurf?

Messner: Ich habe seit 30 Jahren im Gegensatz zu den Kritikern genau dagegen angeschrieben und gezeigt, dass es anders geht. Die neue Kritik ist, dass ich mit meinen Museen auch Tourismus mache. Natürlich, ich bin Teil davon, aber ich halte die Werte hoch, die zum Berg gehören. Ich habe ein Zentrum und fünf Satelliten-Museen geschaffen, wo ich Details erzähle, Eis, Fels, Bergvölker, heilige Berge und traditioneller Alpinismus. Und es funktioniert, sie tragen sich selber und wir unterfüttern den Bergtourismus mit der kulturellen Seite. Und weil das funktioniert, wird mir unterstellt, dass ich Massentourismus machen würde. Wenn das Massentourismus ist, dann möchte ich wissen, was das ist, was bei den Drei Zinnen los ist, wo am Tag 5000 Leute vorbeikommen.

STANDARD: Sie haben oftmals betont, dass es Ihnen nicht um Rekorde ging. Welchen Wert haben Ihre Leistungen für Sie?

Messner: Ein Rekord ist ein sportlicher Begriff, Bergsteigen ist nicht Sport, ist eine Auseinandersetzung mit der großen Bergnatur. Dass ich auf den höchsten Berg gestiegen bin, ist kein Rekord. Man müsste Zeiten einführen, nach irgendeinem Maß messen, ob ich schneller bin als andere. Beim Sportklettern macht man das auf künstlichen Wänden. Ich bin ja gespannt, was die Leute denken, wenn sie bei Olympia sehen, wie die Kletterer 20 Meter wie Frösche die Wand hoch hüpfen und der schnellste gewinnt. Das ist lächerlich. Ich glaube nicht, dass man dem Bergsteigen damit einen Gefallen tut. Der Bergsteiger hält das Narrativ aufrecht, was eigentlich Bergsteigen ist, damit es nicht verloren geht.

"Ich habe festgestellt, dass das Sterben nicht schlimm ist, es ist eine Erlösung. Solange uns der Selbsterhaltungstrieb am Leben halten kann, macht er das und wenn er merkt, dass es verlorene Liebesmüh' ist, dann lässt er den Menschen einfach in den Tod fallen. Ich bin zufällig wieder aufgestanden und weitergekommen."
Foto: APA/EXPA/JOHANN GRODER

STANDARD: In Ihrem eben erschienen Buch "Der Eispapst – Die Akte Welzenbach" poträtieren Sie einen nicht jedermann bekannten Alpinisten. Was fasziniert Sie an ihm?

Messner: Wilhelm Welzenbach war damals der beste, wichtigste Bergsteiger, nicht nur im deutschsprachigen Raum. Er war der erste, der senkrechtes Eis bewältigte. Ihm hat man ziemlich böse mitgespielt, zuerst unter Kollegen, dann viel radikaler unter der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Er ist im Rahmen dieser ganzen Ausgrenzung umgekommen. Eine interessante Geschichte, die ich mit Neugierde und zum Teil auch mit Erschütterung und Trauer geschrieben habe.

STANDARD: Wie sehr waren bei Ihren Expeditionen Gedanken an den Tod Wegbegleiter?

Messner: Jeder Mensch, der einigermaßen Lebenserfahrung hat, weiß, dass er ein Sterbender ist. Aber das schieben wir alle vor uns her. Den Tod nehmen wir selbstverständlich in Kauf, haben Angst vor dem Sterben, weil wir nicht wissen, was passiert oder Angst haben, dass er mit Schmerz oder Verzweiflung zusammenhängt. Ich habe am Nanga Parbat eine Nahtoderfahrung gemacht, das ist dann konkret, das ist was anderes. Ich habe festgestellt, dass das Sterben nicht schlimm ist, es ist eine Erlösung. Solange uns der Selbsterhaltungstrieb am Leben halten kann, macht er das und wenn er merkt, dass es verlorene Liebesmüh' ist, dann lässt er den Menschen einfach in den Tod fallen. Ich bin zufällig wieder aufgestanden und weitergekommen. Ich hatte fünf Tage nichts gegessen, war in einem Moment der absoluten Erschöpfung, war aber trotzdem froh. Es war wie eine Befreiung.

STANDARD: Sie haben damals Ihren Bruder verloren und wurden später für seinen Tod verantwortlich gemacht.

Messner: Ich trage eine Mitverantwortung für seinen Tod und habe nie etwas anderes gesagt. Es ging aber nicht um die Verantwortung, es ging um die Glaubwürdigkeit. Es wurden Sachen in die Welt gesetzt, die erfunden wurden. Ich musste beweisen, dass es so war, wie ich immer erzählt habe und ich hatte Glück, dass er dort gefunden wurde. Warum sollte ich auch etwas anderes erzählen? Was da gelaufen ist, ist ein Rufmord mit Hilfe des Alpenvereins, weil man nicht meine Erfolge, sondern meine Präsenz in dieser ganzen Auseinandersetzung mit den Bergen, angefangen hat, nicht nur zu beneiden sondern auch zu hassen. Die hehre Bergkameradschaft ist mit Vorsicht zu genießen.

STANDARD: Wie entscheidet man bei inneren Konflikten zwischen Instinkt und Intellekt?

Messner: Das letzte Wort hat der Instinkt. Der Intellekt greift korrigierend ein. Die Natur ist immer neu, sie will nichts, sie ist absichtslos, hat das Chaos in sich. Wir können berechnen, rational gegensteuern, aber wenn es hart auf hart geht, eine Lawine oder Steine abgehen, kann man nicht mehr anfangen zu rechnen, dann weicht man instinktiv aus.

STANDARD: Der 1965 tödlich verunglückte französische Alpinist Lionel Terray hat das Bergsteigen als Eroberung des Unnützen bezeichnet. Zu Recht?

Messner: Er war ein großartiger Bergsteiger knapp vor Hermann Buhl, der viele schöne Sachen gemacht hat. Das ist Albert-Camus-Philosophie. Bergsteigen ist absurd, es ist nutzlos, aber es ist eine großartige Möglichkeit, sich auszudrücken. Und damit sagt Camus, dass man sich die Eroberer des Nutzlosen – wie Sisyphos – als glückliche Menschen vorstellen muss.

STANDARD: Was ist emotional schöner, am Gipfel zu stehen oder gesund ins Tal zu kommen?

Messner: Das Zurückkommen ist der Schlüssel zum Reichtum, im Sinne von Erfahrungs- und Emotionsreichtum. Das Zurückkommen ist wie eine Wiedergeburt, weil ich mich fast bis zum Tod exponiere und in der Lage bin, dank meiner Fähigkeiten, aber vor allem dank des Selbsterhaltungstriebes aus dieser tödlichen Situation zurückzukommen. Es wachsen uns Erfahrungen zu, das gibt Selbstmächtigkeit und dann kommt bald einmal die Erkenntnis, dass ich das ganze Leben vor mir habe, wiedergeboren bin. Das erste Mal hat das die Mutter verantwortet, jetzt habe ich das hingekriegt. Das beflügelt. Und dann denkt man, wenn das gegangen ist, dann geht noch ein bisserle mehr. Das ist kein Kick und auch kein Rausch, das ist der Gang der Dinge.

STANDARD: Vom Berg nicht mehr zurückgekehrt sind die Spitzenalpinisten David Lama, Hansjörg Auer und Jess Roskelley.

Messner: Das war ein dramatischer, tragischer Moment. Es ist im Grunde die Bestätigung, dass es ist, wie es war, dass jeder zweite der besten Kletterer und Bergsteiger am Berg umkommt. Das sagt die Statistik. Und das ist im Grunde eine Zahl, die nicht zu verantworten ist. Alle drei waren unter den absoluten Spitzenbergsteigern, mit leicht unterschiedlichen Disziplinen. Vorher ist aus dieser Generation Ueli Steck, der auch zur absoluten Spitze gehörte, am Nuptse abgestürzt. Nicht die Besten überleben, sondern es wird gewürfelt. Ich bin ein großer Bewunderer von diesen Kletterkünstlern. Sie gibt es nur dann und wann, sie ragen über alle anderen hinaus, aber auch sie sind vor dem frühen Tod am Berg nicht gefeit.

STANDARD: Sie wurden kritisiert, die Leistung von Gerlinde Kaltenbrunner nicht entsprechend gewürdigt zu haben. Kann es wirklich Tourismus gewesen sein, wie sie den Everest bestieg?

Messner: Ich habe in dem Buch "On Top" genau beschrieben, was sie gemacht hat. Das habe ich nicht erfunden, ich habe ihre Unterlagen genommen. Sie ist eine großartige Bergsteigerin, sie hat den Makalu in sehr gutem Stil bestiegen, aber zum Gipfel des Everest ist sie großteils auf präparierten Pisten gegangen.

STANDARD: Womit beschäftigen Sie sich heutzutage hauptsächlich?

Messner: Im Moment mache ich Filme, mit dem Vorsatz psychologisch genau zu schildern, wie diese Auseinandersetzung zwischen Mensch und Berg stattfindet. Sie findet nur statt, wenn ich einen großen und unter Umständen auch gefährlichen Berg angehe und so weit gehe, soweit mich meine Angst gehen lässt und dann umdrehe, weil das Ziel nicht ist umzukommen, sondern eben nicht umzukommen. (Thomas Hirner, 15.9.2019)