Einen verkehrsberuhigten Kreisverkehr gibt es schnell einmal wo – aber wie viele davon haben eine 400 Meter lange Laufbahn für Hobbysportler eingebaut? Zumindest einer: die Place de la Nation im Osten von Paris. Im Juli wurde der völlig umgekrempelte Platz, an dem zwölf Verkehrsachsen, eine Schnellbahn und vier Métro-Linien aufeinandertreffen, feierlich eröffnet.

Versuchte man früher den achtspurigen Verkehrskreisel möglichst schnell hinter sich zu bringen, zieht er heute Familien und Erholungssuchende aus den angrenzenden Stadtvierteln an. Gut zwei Jahre hat der Umbau gedauert. Der Grund für die lange Bauzeit: die aktiven Anrainer. Nicht etwa, dass sie gegen den Umbau protestiert hätten – sie haben ihn selbst gestaltet. Nicht nur auf dem Papier.

Im Juli 2019 wurde der neu gestaltete Place de la Nation eingeweiht. Hier zu sehen auf einem Rendering.
Foto: paris.fr/

Ein Hauch von Revolution

Zu Beginn der Arbeiten lag ein Hauch von Revolution in der Luft: Wie anno 1789 zogen im Frühjahr 2017 hunderte Pariserinnen und Pariser mit Spitzhacken bewaffnet auf den von Königsstatuen geschmückten Platz. Sie rissen aber keine Pflastersteine aus dem Boden, um Barrikaden zu errichten, sondern entfernten den Asphalt von der Oberfläche, verlegten Rollrasen und pflanzten Blumenbeete. Angeführt wurden sie vom Architekten und Landschaftsplaner Pablo Georgieff, der mit seinem Büro Coloco den Bürgerbeteiligungsprozess begleitete. "Mit den Leuten zu arbeiten, das hat bei uns eine körperliche Dimension. Sie reden nicht nur mit, sondern legen auch Hand an", so Georgieff.

Allerorts wachsen Glashäuser und Nachbarschaftsbeete aus dem Pariser Boden, werden Wände begrünt und Dächer in Gemüseplantagen verwandelt.
Foto: cremer

Hands-on-Urbanismus

Diesem partizipativen Hands-on-Urbanismus verdankt der Platz auch die Laufstrecke: "Eigentlich sollten die inneren vier Fahrspuren einfach begrünt werden. Irgendwer ist aber draufgekommen, dass eine davon genau vierhundert Meter lang ist. Seither kommen viele zum Trainieren hierher." Die Anrainer entschieden, die Strecke zu belassen. Natürlich habe es angesichts des ungewohnten Prozederes auch Ängste gegeben. "Das Jammern ist eine alte Gewohnheit", meint der Landschaftsplaner. "Früher hatten Bürger keine andere Möglichkeit, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, als sich zu beschweren. Jetzt müssen sich manche daran gewöhnen, dass sie sich auch anders einbringen können." Glaubt man Architektin Concetta Sangrigoli, verläuft diese Gewöhnungsphase im Regelfall recht produktiv.

Ein Nebeneffekt des gemeinsam gestalteten öffentlichen Raums: Es gibt kein Problem mit Vandalismus.
Foto: Renöckl

Zurück zur Wildnis

Gemeinsam mit Landschafts- und Sozialraumplanern hat sie in diesem Frühsommer ein partizipatives Projekt im migrantisch geprägten Epinettes-Viertel im Norden von Paris umgesetzt. Dort verläuft die alte Vorortelinie Petite Ceinture, die seit Jahrzehnten im Dornröschenschlaf liegt und nun schrittweise als öffentlicher Raum neu gestaltet wird. "Die Anrainer wünschten sich, dass die alte Wildnis zumindest teilweise erhalten bleibt", berichtet die Architektin, der neue Raum sollte aber für alle Altersschichten nutzbar sein.

"Bereits vor der Umsetzung verändert ein partizipatives Projekt das Leben im Viertel nachhaltig, da sich viele Nachbarn so erst kennenlernen", sagt Sangrigoli. Ein angenehmer Nebeneffekt des gemeinsam gestalteten öffentlichen Raums, an dem auch Bildhauer, Gärtner und Soziologen mit über 150 Anrainern zusammenarbeiteten: "Es gibt kein Problem mit Vandalismus. Die Leute verbringen viel Zeit in ihrem Park und gehen sorgsam damit um."

Begrünte Fassaden sieht man in Paris heute auf Schritt und Tritt – mit kühlendem Effekt nach innen und außen.
Foto: Getty Images/iStockphoto

Partizipatives Budget

Die aufwendigen Planungsprozesse, die in Paris derzeit allerorts zu beobachten sind, werden durch ein großzügiges "partizipatives Budget" ermöglicht, das unter Bürgermeisterin Anne Hidalgo im Jahr 2014 eingeführt wurde: Fünf Prozent des für Investitionen vorgesehenen Budgets – in einer Amtsperiode etwa fünfhundert Millionen Euro – sind für Projekte vorgesehen, die im Grunde jeder einreichen kann. Nach Überprüfung ihrer Machbarkeit durch die Stadt entscheiden die Pariserinnen und Pariser selbst, was davon umgesetzt wird. Paris setzt das einst im brasilianischen Porto Alegre entwickelte Modell als erste europäische Metropole um und bringt viel frischen Wind in die Stadtplanung.

Dass die Stadterneuerung mitunter länger dauert, liegt auch an den Anrainern: Sie bringen sich aktiv ein.
Foto: Renöckl

Dächer werden zu Gemüseplantagen

"Paris ist heute die inspirierendste Stadt der Welt", findet Yohan Hubert. Der aus Grenoble stammende Start-up-Unternehmer zählt zu den "Parisculteurs", wie ein weiteres Leuchtturmprojekt Hidalgos heißt: 74 Unternehmen und Institutionen haben sich per Charta verpflichtet, in den nächsten Jahren 100 Hektar an urbanen Grünflächen zu schaffen, ein Drittel davon ist für die Lebensmittelproduktion reserviert. Allerorts wachsen Glashäuser und Nachbarschaftsbeete aus dem Pariser Boden oder in alten Parkgaragen, werden Wände begrünt und Dächer zu Gemüseplantagen. Huberts "Sous les fraises", also "Unter den Erdbeeren" genannte Anlage befindet sich auf dem Dach eines traditionsreichen Warenhauses neben dem Rathaus. Auf 1.400 Quadratmetern wachsen 22.000 Pflanzen wie Kräuter, Beeren und Salate in senkrecht angebrachten Stoffpaneelen. Pariser Köche, Eissalons, Destillerien und Brauereien zählen zu den Kunden des Gartens in luftiger Höhe.

Die weltweit größte Dachplantage soll auf einer Fläche von 14.000 Quadratmetern täglich bis zu eine Tonne Ertrag bringen.
Foto: Valode & Pistre Architectes Atlav AJN

Für Hubert ist Paris in den letzten Jahren überhaupt zur Welthauptstadt der urbanen Landwirtschaft geworden. Nicht zufällig eröffnet demnächst die größte Dachfarm der Welt im Süden der Hauptstadt. "Es gibt hier eine echte Dynamik, einen Wandel zu mehr Umweltbewusstsein in allen Bereichen, von der Bauwirtschaft bis zur Produktion von Lebensmitteln, und vor allem wirklich viele, viele, viele Menschen, die das ernst meinen", ist der Stadtgärtner enthusiastisch.

Die Wirtschaft fordert Radwege

Fast wirkt es, als sei in der von Anne Hidalgo gehörig durchgerüttelten Stadt eine kritische Masse erreicht worden – nicht nur in Sachen urbane Landwirtschaft oder bei der Wiedereroberung des öffentlichen Raums. Sondern auch bei der Mobilität: Selbst die notorisch unzufriedene Pariser Radlobby attestiert der Bürgermeisterin, einen Paradigmenwechsel eingeleitet zu haben. Mittlerweile fordert in Paris auch die Wirtschaft lautstark mehr Fahrradwege, breitere Gehsteige und mehr Straßengrün. Geht es nach den Kaufleuten der Champs-Elysées, soll sogar die Place Charles de Gaulle rund um den Triumphbogen durch Gemeinschaftsgärten verkehrsberuhigt werden.

Mittlerweile fordert in Paris auch die Wirtschaft mehr Fahrradwege, Straßengrün und breitere Gehsteige.
Foto: Getty Images/iStockphoto

150 Millionen Euro steckt die Stadt in den laufenden Ausbau des Radwegnetzes, wichtige Teilstücke der Radschnellverbindungen weiht Hidalgo persönlich ein. Im Copenhagenize-Index, der die Fahrradfreundlichkeit von Städten misst, hat Paris Wien überholt. Hidalgo veröffentlichte vergangenes Jahr ein Büchlein mit dem Titel "Respirer", also "Atmen", in dem sie die Grundprinzipien ihrer Politik und ihrer Vorgehensweise in persönlicher Weise darlegt. "Die erste der großen Herausforderungen für die Stadt Paris, diejenige, die sich auf alle anderen auswirkt, ist der Klimawandel", notiert sie darin. Und: "Ich kann handeln. Ich handle." (Georg Renöckl, 13.9.2019)

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