Der in Wien lebende deutsche Historiker Johannes Koll fordert in seinem Gastkommentar Mitbestimmungsrecht bei den Nationalratswahlen für EU-Bürger.

Die bevorstehende Wahl legt wieder einmal einen demokratiepolitischen Makel bloß: dass nämlich ein beachtlicher Teil der in Österreich ansässigen Bevölkerung im wahlfähigen Alter von den Wahlen zum Nationalrat ausgeschlossen ist. Allein in Wien sind hiervon fast 30 Prozent betroffen.

Besonders problematisch ist dieser Ausschluss von politischer Teilhabe für die EU-Bürger, die im Rahmen der europarechtlich verbürgten Prinzipien von Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit in Österreich leben. Zwar nimmt die Republik mit Kusshand deren Steuerleistungen ein. Mit der anderen Hand aber hält sie einen Teil der Bevölkerung von der Wahlurne fern, der in der Regel als sozial gut integriert gelten darf und den europäischen Gedanken biografisch mit Leben füllt.

Der Wahlzettel für den 29. September – nicht alle Mitbürger in Österreich dürfen ihn demnächst auch benutzen.
Foto: APA/GEORG HOCHMUTH

Das führt zu einer verkehrten Welt: Warum sollte jemand, der mehrere Jahre hindurch in Österreich seinen Hauptwohnsitz hat, an den Wahlen in seinem Herkunftsland teilnehmen, dessen politisches Leben ihn nicht unmittelbar tangiert – während sich die Arbeit von Nationalrat und hiesiger Bundesregierung sehr wohl auf ihn auswirkt? Mit der gleichen Berechtigung kann gefragt werden, warum ein Österreicher, der jahrelang seinen Lebensmittelpunkt im Ausland hat, über das politische Geschick Österreichs mitbestimmen darf, ohne hiervon so direkt betroffen zu sein wie hier lebende EU-Bürger?

Schieflage

Das Kernproblem liegt in der Kombination zweier restriktiver Bestimmungen. Zum einen ist da die starre Koppelung des Wahlrechts an die Staatsbürgerschaft. Zum anderen macht es Österreich durch das weitgehende Verbot der Doppelstaatsbürgerschaft besonders schwer, der Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit umfassende demokratische Teilhabe an die Seite zu stellen.

Aus demokratischer Sicht führt die Diskrepanz zwischen der Verbindung von Wahl- und Staatsbürgerschaftsrecht und den realen demografischen Verhältnissen zu einer Schieflage. Sie äußert sich in politischer Ignorierung eines beachtlichen Teils der Bevölkerung, wenn nicht gar in einer strukturellen politischen Diskriminierung. Für ein Regime wie derzeit in Ungarn kein Problem – ein demokratiefeindliches Politikverständnis und die Frontstellung gegen Europa gehen dort Hand in Hand. Eine gefestigte Demokratie hingegen tun gut daran, die Integration von EU-Bürgern durch ein modernes Wahlrecht auf Landes- und Bundesebene zu befördern statt sie mit Bezirks- und Gemeinderatswahlen abzuspeisen.

Zulassung zum Wahlrecht

Um das demokratiepolitische Defizit zu beheben, drängen sich Parlament und Regierung nach der anstehenden Wahl folgende Aktivitäten auf: erstens das Wahlrecht so zu modernisieren, dass EU-Bürger und -Bürgerinnen auch bei Nationalratswahlen ihre Stimme abgeben können; zweitens sich auf europäischer Ebene dafür einzusetzen, dass EU-Bürger nicht nur in Österreich, sondern in allen Ländern der Union auf der nationalen Ebene die Möglichkeit zur Stimmabgabe bekommen; drittens die Gesetzgebung so zu ändern, dass in Österreich geborene Kinder automatisch das Recht auf den Erwerb der hiesigen Staatsbürgerschaft bekommen. Nicht ausgeschlossen, dass sich aus all dem Perspektiven für Mitbürger aus Nicht-EU-Staaten ergeben.

Es ist fast überflüssig zu betonen, dass die Zulassung zum Wahlrecht auf nationaler Ebene nicht mit den horrend hohen Kosten verknüpft werden sollte, die beim Erwerb der Staatsbürgerschaft erhoben werden – würde man sich doch andernfalls leicht den Vorwurf der Kommerzialisierung politischer Teilhabe einhandeln. Für EU-Bürger, die im Rahmen von Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit ihren Lebensmittelpunkt in Österreich haben, ist die Einbindung in das Steuer- und Sozialsystem hinreichend, um auch mithilfe von Wahlen über die Geschicke eines Landes mitzubefinden, von dessen Gesetzgebung sie betroffen sind.

Über Details kann man reden. Dass die Anpassung des Wahlrechts an die demografische Realität geeignet ist, Demokratie mit gestiegener Mobilität in Übereinstimmung zu bringen, steht jedenfalls außer Frage. (Johannes Koll, 11.9.2019)