Genau ein Jahr nach seiner Festnahme wegen Terrorvorwürfen ist der österreichische Aktivist und Publizist Max Zirngast überraschend von einem Gericht in Ankara freigesprochen worden. Voraussichtlich nächste Woche wird er seine Heimreise antreten können.

STANDARD: Wie haben Sie die vergangenen Stunden verbracht?

"Die Unterstützung durch meine Eltern und die Solidaritätskampagne von Anfang an waren sehr bedeutend für mich."
Foto: APA/AFP/IPEK YUKSEK

Zirngast: Ich habe kaum geschlafen, hatte viele Medienanfragen und war sonst mit Familie und Freunden zusammen. Es ist schwer zu beschreiben: Da ist natürlich viel Aufregung, Freude und Erleichterung. Aber das Leben und der Kampf um Demokratie in der Türkei und anderswo gehen natürlich weiter.

STANDARD: Der Freispruch kam ja überraschend. Haben Sie eine Erklärung dafür, wie es nun dazu gekommen ist?

Zirngast: Ein Grund ist sicherlich, dass sich das politische Klima geändert hat. Anscheinend werden im Moment solche Fälle wie der unsrige schnell abgewickelt. Das ist eine oberflächliche Teilliberalisierung, die viel mit der türkischen Innenpolitik zu tun hat. In dieselbe Kerbe fallen die Freisprüche der türkischen Friedensakademiker. Das sind allesamt absurde und offensichtlich haltlose Anklagen gewesen.

STANDARD: Dem Staatsanwalt blieb also nur der Freispruch?

Zirngast: Er hätte sein Schlussplädoyer nicht halten müssen beziehungsweise einen Schuldspruch fordern können, dann hätte es eine Vertagung gegeben. Ein Schuldspruch durch das Gericht wäre nicht möglich gewesen, weil wir selbst bei einem dahingehenden Schlussplädoyer der Staatsanwaltschaft einen Aufschub zwecks angemessener Verteidigung hätten fordern können. Hinzu kommt, dass die türkische Justiz völlig überlastet ist und die Gefängnisse überfüllt sind. Ein Mitangeklagter von mir wurde bereits 2013 bei den Gezi-Protesten wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Terrorpropaganda zusammen mit vielen anderen angeklagt und inhaftiert. Das Urteil wurde 2018 gefällt – sieben Jahre Haft. Dagegen wurde sofort Einspruch erhoben, und der Akt ging zum nächsthöheren Gerichtshof. Aktuell ist die Vermutung der Anwälte, dass ein endgültiges Urteil nicht vor 2021, vielleicht sogar 2022 gefällt wird – also fast zehn Jahre nach dem "Vergehen". Das Beispiel zeigt gut, wie überlastet das System ist. Und das ist auch der Grund, warum die Justizreform auch von der Regierung auf die Agenda gesetzt wurde.

STANDARD: Glauben Sie, das Urteil wäre anders ausgefallen, wenn Sie türkischer Abstammung oder Staatsbürgerschaft wären?

Zirngast: Möglich, aber auch das ist nicht sicher. Eventuell, durchaus wahrscheinlich, hätte es länger gedauert. Denn dass an den Vorwürfen nichts dran ist, wusste die Justiz zu jedem Zeitpunkt.

STANDARD: Wie wichtig war die Unterstützung aus Österreich für Sie?

Zirngast: Sehr wichtig und schön. Die Unterstützung durch meine Eltern und die Solidaritätskampagne von Anfang an waren sehr bedeutend für mich.

STANDARD: Wie geht es jetzt weiter?

Zirngast: Ich muss noch ein paar rechtliche und persönliche Sachen klären. Morgen gehe ich zur Immigrationsbehörde, um meinen rechtlichen Status zu klären. Dann mache ich mich daran, den Umzug zu organisieren. Spätestens Ende September aber werde ich in Österreich sein, da gibt es schon fixe Termine.

STANDARD: Was war im vergangenen Jahr am wichtigsten für Sie?

Zirngast: Schwierig, gute Frage. Ehrlich gesagt kann ich nicht einmal sagen, dass es eine besonders schwere Zeit war. Ich lebe ja seit 2015 in der Türkei, und deshalb war ich von den Vorfällen vielleicht selbst am wenigsten überrascht. Aber natürlich war die Unterstützung aus Österreich sehr wichtig.

STANDARD: Halten Sie Kontakt zu Leuten, die in einer ähnlichen Situation sind?

Zirngast: Das war schon vor meiner Festnahme so. Mein soziales Umfeld hat sich kaum verändert. Tatsache ist, dass in der Türkei sehr viele Menschen unter noch viel absurderen Anklagen im Gefängnis sind.

Zirngast bei seiner Freilassung im vergangenen Dezember.
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STANDARD: Gibt es seit dem Wahlsieg von Ekrem İmamoğlu in Istanbul so etwas wie eine Aufbruchstimmung im Land?

Zirngast: Die hätte es geben können, wenn die Opposition das richtig genutzt hätte. Aber dazu ist die CHP als Ganze nicht wirklich in der Lage. Die Regierungsallianz ist zurzeit aber tatsächlich schwach wie schon lange nicht. Die mögliche Justizreform, die mit teilweisen De-facto-Amnestien verbunden sein wird, ist auch Ausdruck davon. Ebenso zeigt das Verfahren gegen die CHP-Politikerin Canan Kaftancıoğlu gut die aktuellen Machtverhältnisse. Sie wird zwar verurteilt, die Macht der AKP reicht aber nicht dazu aus, dass sie sofort ins Gefängnis kommt. Das heißt aber nicht, dass sich die Kräfteverhältnisse nicht so verschieben können, dass das irgendwann der Fall sein wird. Die Verurteilung erfolgte ja auch aufgrund von Tweets von vor sechs Jahren.

STANDARD: Vor kurzem erschien auch Ihr Buch. Worum geht es da?

Zirngast: Es ist in erster Linie kein persönliches Buch, herausgegeben von der Kampagne #freemaxzirngast. Ein Sammelband mit Texten von mir, meist in Kooperation mit anderen Autorinnen und Autoren, und Hintergrundtexten zu meinem Fall. Es war mir wichtig, ein politisches Buch zu machen, das über mein persönliches Schicksal hinausweist. Ich hoffe, das Buch kann auch einen kleinen Teil dazu beitragen, die Schwarz-Weiß-Wahrnehmung der Türkei, die es im Westen oft gibt, ein wenig differenzierter unter die Lupe zu nehmen.

STANDARD: Werden Sie Ihren Lesern raten, ihren Urlaub in der Türkei zu verbringen?

Zirngast: Ich kann niemandem Urlaubsvorschläge machen, aber es braucht niemand Angst haben, der keine direkte politische Tätigkeit verfolgt oder Äußerungen getätigt hat. Es gibt Elemente staatlicher Willkür in der Türkei; aber das bedeutet nicht, dass jeder, der einen kritischen Tweet absetzt, sofort ins Gefängnis kommt. Personen, die das gemacht haben, müssen aber die Lage selbst bewerten. Die Verantwortung dafür kann ich nicht übernehmen. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 12.9.2019)