Nora Bossong: "Wahrheitssucherin" mit Herausforderungen.

Foto: Heike Steinweg

Pablo Picasso verewigte seinen Sohn in einem Ölgemälde mit dem Titel Paulo als Harlekin (1924). Das etwa vierjährige Kind lehnt an einem Stuhl, der ohne festen räumlichen Anhaltspunkt auf der Leinwand schwebt. Die warmherzigen Augen des kleinen Clowns suchen den Blickkontakt eines Gegenübers. Berührt von dieser zutraulichen Geste würde man dieses fremde Kind am liebsten aus dem Gemälde ziehen, um es schützend in die Arme zu schließen.

Solche Emotionen entstehen, wenn man in Nora Bossongs neuen Roman Schutzzone eintaucht, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises zu finden ist. Die 1982 in Bremen geborene Autorin erzählt in Rückblenden von der Kindheit der UN-Diplomatin Mira, die damit zurechtkommen muss, dass sie von ihren Eltern verlassen wurde.

Das erwähnte Picasso-Gemälde stiftet in Miras Kindheit Verwirrung, denn sie ist der Meinung, ihre Eltern hätten sie in einem Harlekinkostüm porträtieren lassen. Erst viel später findet das Mädchen das Werk enttäuscht in einem Kunstlexikon wieder, und es war, "als schöben sich zwei Wirklichkeitsebenen übereinander und es knirschte und bebte wie bei einer zu schnellen Bewegung der Erdplatten".

Trügerische Erinnerungen

Nach dieser Erkenntnis begreift die Ich-Erzählerin Mira zum ersten Mal, wie leicht es geschehen kann, "mit etwas Falschem zu leben", und wie "unsicher wir werden, wenn wir eine Lüge, einen Fehler, eine trügerische Erinnerung im Nachhinein, so viele Jahre später, zu korrigieren versuchen".

Selbst als Mira für die Wahrheitskommission der Vereinten Nationen arbeitet und in entlegenste Regionen der Welt reist, um dort Erfahrungen von Kriegsopfern zu dokumentieren, bleibt eine Restunsicherheit erhalten, denn Mira weiß, dass Erinnerungen täuschen können, denn sie sind wie Gemälde, immer nur ein Versuch, die Wirklichkeit abzubilden. Selbst in ihre Berichte schummelt Mira gelegentlich sinnwidrige "Nilpferde", nur um zu sehen, ob ihr Versteckspiel, ihr Täuschungsmanöver, einem höheren Beamten auffallen würde.

Mira muss sich im "Nirgendwo" allein zurechtfinden, etwa im afrikanischen Bujumbura, einer Gegend, deren sanfte Hügel nicht vermuten lassen würden, dass sich hier blutige Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen Gruppen der Hutu und Tutsi zutrugen. Dem Lesenden werden hier nur einzelne Erfahrungen der Diplomatin berichtet, und diese werden nicht in einen historischen Kontext gestellt.

Dadurch entstehen Leerstellen, die Bossong nicht auffüllt. Ähnlich verhält es sich mit Miras Beziehung zu General Aimé, einem aktenkundig gewordenen Mörder. Dieser holt die Diplomatin mit verbundenen Augen zu sich, und was zuerst aussieht wie eine Geiselnahme, entwickelt sich zu einem Flirt.

Diese Gespräche, zu denen die UN-Diplomatin später in Den Haag befragt wird und die ihre Souveränität gehörig ins Wanken bringen, sind Bossong besonders gelungen. Dass Mira mit diesem Verbrecher nicht nur verhandelt hat, bleibt allerdings ihr Geheimnis.

Ein einziger Ausnahmezustand

Wie man verhandelt, das hat Mira bereits bei ihrem "zweiten" Vater Darius gelernt. Sie wird nämlich von ihren leiblichen Eltern an die streng frisierte Lucia und den gebildeten Darius übergeben. In ihrem neuen Domizil, einer "beigen Sandwüste", muss sich Mira zwangsläufig zurechtfinden und wird so indirekt auf ein Leben als Diplomatin vorbereitet.

Lucias’ und Darius’ Sohn Milan wird zu Miras "geliehenem" Bruder, und wenn dieser die Klaviersonate von Schubert übt, dann erscheint die stotternde, sich wiederholende Melodie das einzig Vertraute, an dem sich Mira festhält.

Brillant verstrickt Bossong Miras Kindheit mit deren späterem Leben. Das Verschwinden von Vertrautem wird zur prägenden Erfahrung, stellt aber gleichzeitig das Rüstzeug bereit, um in einer fremden Welt zu bestehen. Jahrelang denkt Mira nicht mehr an ihren "geliehenen" Bruder Milan, doch dann begegnet sie ihm unerwartet in Genf wieder.

Obwohl Milan verheiratet und Vater eines Sohnes ist, findet eine Annäherung zwischen den beiden im Geheimen statt. Doch diese Liebe wird in ihrer Unmöglichkeit ein einziger Ausnahmezustand.

Sie ähnelt einem Aufenthalt auf einem fremden Kontinent und wird für die "Wahrheitssucherin" Mira zu einer Herausforderung, die sich erneut mit der Erkenntnis verknüpft, dass es eben nicht nur die eine Wahrheit geben kann, dafür umso mehr Geheimnisse. Und sich die Welt im Großen wie im Kleinen in Ausgeschlossene und Eingeweihte einteilen lässt. (Gerlinde Tamerl, 15.9.2019)