Äußerungen werden nicht mehr nach der Plausibilität oder Argumentation beurteilt, sondern nach der Person des Sprechers oder der Sprecherin selbst.

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Der in Wien lebende Journalist Robert Misik fordert in seinem Gastkommentar auf, die Aufklärung wieder mit mehr Nachdruck zu verteidigen. Der Philosoph Georg Cavallar widmet sich der Political Correctness an Universitäten.

Vor dreißig Jahren noch war "die Aufklärung" ein großes Thema. Als historische Epoche war sie da zwar auch schon zweihundert Jahre alt, aber sowohl Intellektuelle als auch linke und linksliberale politische Aktivisten sahen sich in ihrer Tradition. Aufklärung unaufgeklärter Zustände, vernünftige Kritik unvernünftiger Umstände, das schien noch irgendwie ein großer Zeitstrahl zu sein, der mit den französischen Aufklärern begann, bei Kant und Hegel weiterging – bei Kant mit dem legendären Diktum: "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. (...) ‚Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘ ist also der Wahlspruch der Aufklärung."

Pathetische Verbindung

Marxismus und sozialdemokratische Arbeiterbewegung sahen sich immer als Fortsetzung der Aufklärung.

Diese pathetische Verbindung mit der Aufklärung überstand noch die Vernunftkritik der Kritischen Theorie, die nicht nur die "Fortschrittsidee" zerlegte (die eng mit der Zuversicht der Aufklärer verbunden war), sondern in der Dialektik der Aufklärung den Vernunftglauben selbst einer grau gefärbten Selbstkritik unterzog.

Aber diese Selbstkritik der Aufklärung zerstörte nicht den auf klärerischen Pathos, schlug nicht in Antiaufklärung um, und noch der konkurrenzlose Verweser des Erbes der Kritischen Theorie, Jürgen Habermas, sah sich wohl als der große Aufklärer seiner Epoche.

Bürgerliche Freiheiten

Aus alldem folgten ein paar Grundsätze: dass Meinungen geäußert werden sollen, und zwar so ziemlich alle, weil die Freiheiten, die die Aufklärung erkämpfte, also die bürgerlichen, demokratischen Freiheiten, nicht nur unhintergehbare Prinzipien seien, sondern deren Wettstreit eben die Voraussetzung des Fortschritts. Auf die Idee, man müsse die Menschen vor falschen Meinungen schützen, wäre niemand gekommen.

Die Idee der Aufklärung verblasste dann langsam, und in jüngeren Generationen waren andere Gedankenbausteine wichtiger. Dass "Wahrheit" nur ein Konstrukt sei, ein leeres Wort (wofür die Postmoderne gute Argumente vortragen konnte), dass die Verbindung von Aufklärung, Rationalität und Wahrheit eine eurozentrische Perspektive sei, dass es sowieso nicht die rationale Vernunft gäbe, die nichtvernünftige Aspekte (etwa die Emotionen) ausschließen könne. Für diesen theoretischen Antirationalismus ließen sich gute Gründe vorbringen.

Der jüngste Strukturwandel der Öffentlichkeit machte dann sowieso klar, dass öffentliche Debatten eher wegen der Emotionen, die man schürt, gewonnen werden und nicht wegen der Stichhaltigkeit nüchtern erwogener Argumente, die man vorbringt. Und in multikulturellen Gesellschaften sind verschiedene kulturelle Prägungen präsent, weshalb kein Platz für einen Absolutheitsanspruch sein kann, den die Aufklärung hatte. Und war Voltaire nicht auch ein Rassist, der den Islam nicht nur wie jede Religion einer Religionskritik unterzog, sondern die Muslime und überhaupt alle "Wilden" selbst verachtete? Weit her war es also mit dem menschenfreundlichen Pathos der Aufklärung auch zu Beginn nicht. Außerdem war die Aufklärung natürlich von der Vorstellung geprägt, vernünftige Großdenker könnten die dummen Volksmassen erziehen, was ja auch irgendwie paternalistische Kacke ist.

Ins Vergessene versenkt

Die Folge davon war aber nicht nur die Kritik jener lange prägenden Geistesströmung der Aufklärung (für deren Selbstbefragung es selbstverständlich viele Anlässe gäbe), sondern im Grunde die Absenkung ins Vergessene. Liest man heute einen Essay über die Aufklärung, kann man fast sicher sein, dass sein Autor über siebzig ist. Modische "Theories", die heute alle begeistern und morgen schon wieder vergessen sind, gewannen an Dominanz.

Opferdiskurs

In deren Zuge setzten sich Postulate durch, die gute Argumente für sich, aber auch sehr frag würdige, offen antiaufklärerische Schlagseiten haben: etwa dass nicht jeder mitreden soll, sondern jeweils nur die Opfer beklagenswerter Umstände, dass weniger das Wissen zählt als die Betroffenheit, dass Gefühle als Argumente durchgehen usw. Dass alles Mögliche auf der Welt wichtig ist, aber die alten bürgerlichen Freiheiten eher Nebensachen sind. Dass jedes Gelaber gleich viel – oder gleich wenig – wert ist, wenn nicht sogar der Versuch, Argumente vernunftmäßig zu untermauern als elitäre Strategie von Gatekeepern in Feuilletons und Universitäten angesehen wird. Äußerungen werden nicht mehr nach der Plausibilität – oder auch nur Berechtigung – der Argumentation beurteilt, sondern nach der Person des Sprechers oder der Sprecherin selbst, wenn sie nicht sogar damit delegitimiert werden, dass sie irgendjemanden kränken könnten. Sätze werden mit Formulierungen wie "Ich als XY sehe das so, ..." begonnen, von der selbstverständlichen Überzeugung ausgehend, eine identitäre Essenz gäbe einem Argument Nachdruck.

Nichts von alldem ist gänzlich falsch oder unargumentierbar, aber im Zuge davon wurden auch ein paar wichtige Prinzipien in Vergessenheit gedrängt, das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und eine wesentliche Tradition emanzipatorischen Denkens einfach abgeschnitten. Man sieht das daran, wie leichtes Spiel gelegentlich antiaufklärerische Positionen haben, etwa die, dass man extremistische oder menschenverachtende Meinungen nicht einmal referieren solle, da das gemeine Volk, doof wie es ist, von denen infiziert werden könnte. Oder dass wir uns vor Schockerfahrungen schützen müssen, die bis weilen schon mit der provokanten, ungeschönten Abbildung der Wirklichkeit einhergehen.

Doofes Volk

Früher hätte man gesagt: Wenn die Welt weiß, wie Krieg aussieht, würden die Menschen gegen Kriege protestieren. Heute sagt man eher: Wenn du das Bild von Kriegstoten in die Zeitung bringst, könnte sich jemand beim Anblick erschrecken. Wir sollten die gute alte Aufklärung wieder mit mehr Nachdruck verteidigen. (Robert Misik, 14.9.2019)