Leonore Gewessler musste nicht lange überlegen, als Werner Kogler anrief.

Foto: Andy Urban

Wird dereinst nach dem Ort gefragt werden, an dem Leonore Gewessler ihre politische Erweckung erfuhr: Man wird nicht umhinkönnen, den siebenten Wiener Gemeindebezirk zu nennen. In Neubau wurden unter grüner Bezirksvorstehung Modelle von Bürgerbeteiligung ausprobiert. Andernorts zerriss man sich über die Luxusprobleme verwöhnter Bobo-Kinder noch das Maul. Da verzeichnete Gewessler, nicht ohne milde Rührung, in den frühen Nullerjahren schon ihr einschneidendes Damaskus-Erlebnis.

"Endlich wurde Bürgerbeteiligung im größeren Stil vorgelebt", erzählt die gebürtige Steirerin heute. Jahre vor Einrichtung von kommunalen Kühlzonen wurden Plätze verkehrstechnisch beruhigt. Das verführerisch nach Philanthropie klingende Motto lautete: "Mehr Platz für die Menschen". Mitten im Siebenten dabei: Gewessler. An solchen Abenden, erzählt sie, sei man in die Straßenbahn gestiegen und habe gehört, "wie die Leute über das sprachen, was man selbst tagsüber gemacht hat".

Parteipolitisches Engagement war der Tochter eines steirischen Landarztes aus dem Bezirk Graz-Umgebung nicht unbedingt an der Wiege gesungen worden. Gewiss, der Herr Papa politisierte gerne. Die erste politisch verwertbare Kindheitserinnerung hat mit Tschernobyl zu tun. Die Sandkiste wurde aus Anlass des Reaktorunfalls zur verbotenen Zone erklärt. Nachbarn brachten ihren Bunker im schönen Eigenheim vorsichtshalber wieder in Schuss.

Heute vermeidet die freundlich, aber bestimmt auftretende Listenzweite der Bundesgrünen jede Regung, die sich als missionarisch missdeuten ließe. Das Comeback der Ökos rund um ihren Chef in Hemdsärmeln (Werner Kogler) strotzt geradezu vor Sachlichkeit. Vergessen das Wahljahr 2017, als man die Grünen zu Spaßbremsen erklärte. Damals wurden ihre Aufrufe zur ökologischen Umkehr noch als gewerbsmäßige Bigotterie verunglimpft.

Nur mit "sozialer Gerechtigkeit"

Heute weiß Leonore Gewessler, dass der Weltgeist, in welcher Gestalt er sich auch immer gerade verkörpern mag, unter Garantie ein grünes Schürzlein trägt. Es ist auf der Weltuhr aktuell nicht fünf Minuten, sondern vielleicht 14 Sekunden vor zwölf. Gewessler sagt: "Man kann Klima- und Umweltschutz nicht überzeugend betreiben, ohne an soziale Gerechtigkeit zu denken." Der Klimaumbau der Gesellschaft soll "allen Menschen ein gutes Leben ermöglichen". Das gehe aber nur in langwierigen, demokratischen Aushandlungsprozessen.

Als mehrjährige Geschäftsführerin von Global 2000 habe sie so richtig gelernt, sich über die Politik kleinster Trippelschritte zu ärgern. Ein häufig wiederkehrendes Wort ist bei Gewessler "umsteuern". Starken Verben müssen starke Taten folgen. Als Werner Kogler die gelernte Politikwissenschafterin anrief und um ihre Mitwirkung als Wahlwerbende für den Nationalrat bat, habe sie nicht allzu lange überlegen müssen.

"Man kann Klima- und Umweltschutz nicht überzeugend betreiben, ohne an soziale Gerechtigkeit zu denken."
Foto: Andy Urban

Jetzt kommt kein Verbotswort über die Lippen dieser massiv unaufgeregten Frau: "Politik ist nicht dazu da, zu moralisieren oder zu sagen, was du essen darfst und was nicht." Gegen ein ökologisch einwandfreies Puten-Cordon-bleu sei nicht das Geringste einzuwenden. Sukzessive soll Österreich in ein Öko-Schlaraffien umgewandelt werden. Tempus fugit.

Irgendwann sollen auch hartgesottene Automobilisten den Mehrwert von Bahnreisen mit inkludierter Buchlektüre erkennen. Aber, so Gewessler: "Ich kann nicht über die Zapfsäule oder die Fleischtheke Sozialpolitik machen." Das Setzen neuer Anreize zur Änderung von Lebensstil und Konsumgewohnheit soll die freudige Zustimmung von restlos allen Mitmenschen ernten. Vorausgesetzt, die öffentlichen Verkehrsmittel fahren wieder so oft – und so quer – durchs Land, dass ihre Benützung auch wirklich Spaß macht.

Die Regierung Kurz? "War ein sehr machtgetriebener Politikbetrieb." Von der Wahl am 29. September erwartet sich Gewessler nicht nur den Einzug der Grünen ins Parlament. Sie hofft darauf, dass man Brüssel-Flüge "wegen einstündiger Meetings" künftig sein lässt. Sie will Flüge von Schwechat aus, die nicht weiter als eine Strecke von 800 Kilometern tragen, "ersetzen". Sie fragt: "Sind Sie schon einmal mit dem Nachtzug nach London gefahren? Eine wunderschöne Alternative! Sie fahren abends um acht los und sind am nächsten Morgen um elf Uhr da." (Ronald Pohl, 14.9.2019)