In den Erzählungen seiner Gegner aus der linken Reichshälfte ist Sebastian Kurz ein Erfüllungsgehilfe des Großkapitals, der Konzernbossen Millionen nachwirft.

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Schon die Einladung ließ keinen Raum für Grautöne. Als "Abrechnung mit Türkis-Blau" hatten die sozialdemokratischen Gewerkschafter ihren Wahlkampfauftakt angekündigt, denn keine Regierung zuvor habe die Nation derart gespalten. Die Besucher wurden nicht enttäuscht. Auf der Rednerbühne lief nonstop das Drama vom verratenen Arbeitnehmer.

So geht es immerfort, seit er angetreten ist. In den Erzählungen seiner Gegner aus der linken Reichshälfte ist Sebastian Kurz ein Erfüllungsgehilfe des Großkapitals, der Konzernbossen Millionen nachwirft. Ein Apologet des Neoliberalismus, der im Sozialstaat die Abrissbirne schwingt. Ein Wiedergänger des ersten schwarz-blauen Kanzlers Wolfgang Schüssel, der im Land nichts als soziale Kälte verbreitet.

Hat der ehemalige und wohl auch künftige Kanzler diese Nachred' verdient? Es gibt Auftritte von Kurz, die passen so gar nicht ins Bild. Im ORF-Sommergespräch etwa verteidigte er das Pensionssystem fast wortgleich wie rote Sozialminister vergangener Tage. Der Ruf nach harten Reformen, weil die Kosten angeblich explodierten, ist in der ÖVP jäh verstummt.

Kritik setzt es auch dafür – allerdings von einer Seite, die nach Logik der Neoliberalismuskritiker ein natürlicher Verbündeter des ÖVP-Chefs sein müsste. Grosso modo habe die türkis-blaue Koalition durchaus "eine ordentliche Dynamik" entfaltet, sagt Franz Schellhorn vom wirtschaftsliberalen Thinktank Agenda Austria, "doch bei den Pensionen hätte ich mir schon einen mutigen Eingriff erwartet".

Stattdessen hätten Kurz und Co mit der heurigen Pensionserhöhung über die Inflation hinaus die finanzielle Lage im System nur noch verschlechtert.

Angriffsfläche Zwölfstundentag

Kein Wunder, dass sich die Gewerkschafter schwertäten, die soziale Kälte zu belegen, kommentiert Schellhorn: "Als einzige Angriffsfläche bleibt der Zwölfstundentag, und der ist nur eine Arbeitszeitflexibilisierung, wie sie in der EU gang und gäbe ist."

Tun sie sich schwer? Nach außen hin lassen die Sozialdemokraten kein gutes Haar am Zwölfstundentag. Und Tatsache ist: Das Gesetz hebelt die Mitsprache des Betriebsrates aus, was manche Unternehmer nützten, um Mitarbeiter zur Mehrarbeit zu drängen.

Doch hinter den Kulissen räumen selbst Gewerkschafter ein, dass der Zwang bis dato kein Massenphänomen wurde. Offenbar ist das Klima zwischen Chef und Belegschaft vielerorts besser als befürchtet.

Anderes Beispiel für Nicht-so-heiß-gegessen-wie-gekocht: Im siegreichen Wahlkampf 2017 hatte Kurz mit milliardenschweren, aber ungedeckten Steuersenkungsplänen jongliert, die zwangsläufig auf die Demontage des Sozialstaates hinauszulaufen schienen. Für Großkonzerne zeichnete sich ein Geldregen ab. Das später beschlossene türkis-blaue Steuerreformkonzept bedient die Unternehmen tatsächlich – aber eben nicht nur.

Von den 8,35 Milliarden Euro, die bis 2022 an Entlastungen geplant oder bereits beschlossen sind, entfallen laut Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) knapp 74 Prozent auf die Lohn- und Einkommenssteuer. 11,4 Prozent verschlingt die den Unternehmen gewährte Senkung der Körperschaftssteuer.

Kein einseitiges Bild

Auch der nähere Blick zeigt kein einseitiges Bild. Am Spitzensteuersatz rüttelten ÖVP und FPÖ entgegen dem neoliberalen Brauch nicht. Der auf die Mittelschicht abgestimmte Familienbonus hat zwar eine erhebliche soziale Schwachstelle, weil Kleinverdiener die als Absetzbetrag konzipierte Entlastung nicht oder nur zum Teil lukrieren können – was auf 36 Prozent der Haushalte mit Kindern zutrifft. Aber noch vor der Wahl soll auch eine Senkung der Sozialversicherungsbeiträge fixiert werden, die kleine Einkommen gezielt stützt.

"Verteilungspolitisch diskutabel" nennt AK-Steuerexperte Dominik Bernhofer die anvisierte Senkung der unteren drei Stufen der Lohn- und Einkommenssteuer, was in Wahlkampfzeiten schon fast wohlwollend klingt.

Eine "klare Schieflage" moniert er trotzdem: Das Körperschaftssteuerzuckerl sei "lupenreine Klientelpolitik", die den potentesten fünf Prozent der Unternehmen 80 Prozent der Entlastung beschere. Insgesamt kommt die AK auf ein Verhältnis von 66 Prozent für die Arbeitnehmer zu 34 für die Selbstständigen; für ausgewogen hielte Bernhofer 80 zu 20 Prozent, denn so sei auch die Steuerleistung verteilt.

Die AK-Daten belegen aber auch: Im Vergleich zu ÖVP-Vorgänger Schüssel ist Kurz diesbezüglich ein Waserl. Unter Schwarz-Blau I erfreuten sich die Unternehmer eines viel üppigeren Steuerrabatts, für das Nulldefizit im Budget zahlten – so das Urteil des damaligen Wifo-Chefs Helmut Kramer – die kleinen Leute die Zeche. Die Schüssel'sche Pensionsreform trieb das linke Politspektrum erst recht auf die Barrikaden.

Dazu kam das in eine Privatisierungswelle mündende Dogma "mehr privat, weniger Staat" – eine weitere Diskrepanz zu Kurz. Türkis-Blau habe den Staatseinfluss auf Unternehmen eher wieder ausgebaut, sagt Ex-Staatssekretär Johannes Ditz, ein früherer Schüsselianer: Bei Privatisierungen habe die ÖVP heute eine rigidere Position als die SPÖ in den Neunzigerjahren.

Reformen müssen wehtun

"Schüssel war beseelt von der Idee, das Land zu verändern", urteilt ein anderer Ex-VP-Spitzenpolitiker, der nicht genannt werden will, "eine echte Reform musste für ihn wehtun." Dass Kurz eine derart stringente Agenda fehle, könne man als Pragmatismus auslegen – oder aber als Resultat einer strategiegetriebenen Politik, die Machterhalt zum Selbstzweck macht.

Das zentrale Motiv der Kurz'schen Strategie schlägt sich in der Sozialpolitik nieder. In jenem Gesetz, das die Mindestsicherung zusammenstrich, sind Migranten klar als Adressaten ausgeschildert. Wer nicht ausreichend Deutsch kann, bekommt um 300 Euro weniger. Durchhalten ließ sich die Trennung nicht, denn die Kürzung der Kinderzuschläge trifft auch einheimische Familien.

Gemessen an den Gesamtkosten für die nunmehrige Sozialhilfe laufen die Einsparungen auf die berühmten Peanuts hinaus, für die Betroffenen aber auf einen harten Schnitt: In Niederösterreich, das die Vorgaben als erstes Land umgesetzt hat, verliert eine fünfköpfige Familie laut Rechnung der Armutskonferenz 301 Euro im Monat.

Weniger als hart als Schüssel

Wifo-Expertin Margit Schratzenstaller erkennt noch eine weitere von Kurz gezogene Trennlinie: "Diese verläuft zwischen Menschen mit und solchen ohne Job." Auf der einen Seite stehen Goodies wie eine Senkung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge oder die höhere Mindestpension für Menschen, die lange im Erwerb standen.

Auf der anderen strich Türkis-Blau Arbeitsmarktförderprogramme für Ältere und wiederum Flüchtlinge und fasste die Abschaffung der Notstandshilfe ins Auge, was frappant an das deutsche Hartz-IV-Modell gemahnt. Leistungskürzungen, um mehr "Anreiz" zum Arbeiten zu geben: aus linker Perspektive ein klassisch neoliberales Konzept.

Unterm Strich trete Kurz in der Steuer- und Pensionspolitik weniger hart auf als Schüssel, urteilt AK-Chefökonom Markus Marterbauer, während im Umgang mit Armen und Arbeitslosen das Gegenteil gelte. Für neoliberaler hält er auch den Politikstil: Anders als unter Schwarz-Blau I sei die Sozialpartnerschaft vollends abgemeldet.

Die Bilanz ist allerdings im Fluss, manche Spätfolge noch nicht absehbar. Sollte etwa eine Wirtschaftsflaute die nächste Kurz-geführte Regierung dazu verleiten, Steuersenkungen mit Sozialkürzungen gegenzufinanzieren, dann könnte sich ein warmer Geldregen rasch in eine kalte Dusche verwandeln. (Gerald John, 14.9.2019)