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Mit Genüsslichkeit das Böse schildern: Margaret Atwood.
Foto: Arthur Mola/Invision/AP

Eine Leserin muss Margaret Atwoods Roman "Die Zeuginnen" ganz besonders glücklich gemacht haben. Glücklicher selbst als die Scharen von Fans, die sich am 9. September spätabends vor Buchhandlungen versammelten, um beim mitternächtlichen Verkaufsstart dabei zu sein. Oder die in einem der über 1.000 Kinosäle saßen, in die Atwoods erste Lesung live übertragen wurde – ein Rummel, wie man ihn seit "Harry Potter" nicht mehr erlebt hat.

Diese spezielle Leserin ist die US-amerikanische Schauspielerin Ann Dowd. In der TV-Serie "The Handmaid's Tale", basierend auf Atwoods Roman "Der Report der Magd" aus dem Jahr 1985, verkörpert sie die Rolle der "Tante" Lydia. Sie ist es, die im Gottesstaat Gilead, zu dem die USA in naher Zukunft geworden sind, aus Frauen "Mägde" macht. Deren Funktion: sich in einem biblisch-bizarren Ritual vergewaltigen zu lassen, um unfruchtbaren Paaren der Elite Nachwuchs zu liefern.

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"Die Zeuginnen" rückt eine alte Figur in ein neues Licht: "Tante Lydia", in der Fernsehserie verkörpert von Ann Dowd.
Foto: AP/George Kraychyk/Hulu

Das Training für diese jeder Würde beraubten Rolle übernehmen die Tanten, und sie tun es mit einer grauenhaften, jeden Widerstandsgeist lähmenden Mischung aus Folter und Zuneigung. Das allein machte Lydia bereits zu einer fantastisch ambivalenten Rolle. Doch nun, in der einige Jahre später angesiedelten Fortsetzung "Die Zeuginnen", steigt Lydia zur Hauptfigur auf und zeigt ungeahnte neue Facetten. Man könne sie als Legende wie auch als Monster sehen, sinniert sie zu Beginn – und möglicherweise sogar als Heldin. Dowd steht damit eine goldene Zukunft bevor.

Ist es fair, ein Werk der Literatur aus der Perspektive des Franchises zu beurteilen, das daraus entsprungen ist? In diesem Fall muss man es sogar tun, denn gerade hier zeigt sich Atwoods Souveränität. Sie weiß nicht nur, dass sie ein popkulturelles Phänomen geschaffen hat. Sie umarmt es. Zur immens erfolgreichen TV-Serie kommt noch eine blühende Fanfiction-Kultur – und beides hat der Autorin als Quelle für Namen und Figuren gedient, die nun in ihrem neuen Roman auftauchen.

Eine Buchpräsentation wird zum Medienereignis: Margaret Atwood liest aus ihrem neuen Roman "Die Zeuginnen" ("The Testaments").
Waterstones

Manche Fans mögen enttäuscht darüber sein, dass die Fortsetzung nicht die weiteren Erlebnisse der Magd Desfred aus dem Originalroman schildert. Die kommt nur am Rande vor – und selbst da bleibt eine Restunsicherheit bestehen, ob es sich tatsächlich um sie handelt. Doch damit hat Atwood sich selbst wie auch den Serienmachern Luft verschafft. Elegant vermeidet sie damit das Schicksal George R. R. Martins, von der eigenen TV-Adaption überholt zu werden und etwaige Widersprüche zu produzieren.

Will man Desfred als Widerstandskämpferin erleben, möge man vor dem Bildschirm Platz nehmen – hier richtet sich der Fokus auf andere. Die Frage, wer hinter den titelgebenden Zeuginnen Agnes und Daisy steckt, wird einen twistreichen, wenn auch konventionellen Plot um Geheimmissionen und Tarnidentitäten in Gang setzen, der uns eines in Erinnerung ruft: Bei aller politischen Brisanz will Atwood auch unterhalten – und nicht zuletzt sich selbst. So manche böse Tat wird hier mit einer unverkennbaren Portion Genüsslichkeit geschildert.

Gilead ist realer denn je

Den schwarzen Humor hat Atwood hier freilich etwas sparsamer dosiert als etwa in ihrer Wirtschaftsdystopie "Das Herz kommt zuletzt" aus dem Jahr 2015. Für mehr wären Gilead und dessen reale Vorbilder denn doch ein zu grimmiges Umfeld. Die Inspiration für den "Report der Magd" war seinerzeit das Wiederaufleben fundamentalistischer religiöser Strömungen. Seitdem habe sich die Welt noch näher auf Gilead zubewegt, statt sich von ihm zu entfernen, bilanziert Atwood – darum nun die Fortsetzung.

Dies ist keine Filmszene. Die Tracht der Mägde, von Atwood beschrieben und in der TV-Serie konkretisiert, wird von Aktivistinnen weltweit als Ikone des Widerstands genutzt.
Foto: APA/AFP/ALEJANDRO PAGNI

Und doch sind weder Religion noch Patriarchat das, worauf sie eigentlich abzielt. Atwood, die sich mit Labels stets schwertat, sah den "Report" nicht zwangsläufig als feministisches Werk. "Die Zeuginnen" macht diese paradox erscheinende Sichtweise noch deutlicher: Männer treten hier nur als Randfiguren auf, dementsprechend richtet sich der Fokus nun ganz auf die Rolle der Frauen – auch als Stützen eines frauenfeindlichen Systems. Angehenden Heldinnen stehen Täterinnen gegenüber. Der Übergang vom Opfer über die Komplizin bis zur aktiven Mitgestalterin des Systems, illustriert am Lebensweg Lydias, erweist sich als fließend.

Es ist das Wesen der Diktatur selbst, unabhängig von seiner konkreten Ausformung, das Atwood beleuchtet – ein System, das es Menschen unmöglich macht, moralische Entscheidungen zu treffen. Möglich ist nur, vielleicht, das Überleben. Und die Rechtfertigung dafür vor der Nachwelt; sinngemäß wird daher auch der berühmt-berüchtigte Satz "Es war nicht alles schlecht" fallen.

Es sind unzumutbare Umstände, die die drei Hauptfiguren vor eine unzumutbare Wahl stellen. Und sie so auf einen Weg bringen, den sie niemals für denkbar gehalten hätten. Mit den Worten Lydias: "Man macht den ersten Schritt, und um sich vor dessen Konsequenzen zu retten, macht man den nächsten. In Zeiten wie unseren gibt es nur zwei Richtungen: aufwärts oder in den Abgrund." (Jürgen Doppler, 14. 9. 2019)