Marietje Schaakes Botschaft an die neue EU-Kommission: "Wir brauchen eine klare Vision, wo sich Europa positionieren will."

Foto: Bram Belloni

Zehn Jahre lang hat die Niederländerin Marietje Schaake als EU-Abgeordnete für IT-Themen wie Netzneutralität und Datenschutz und eine kohärente europäische IT-Politik gekämpft. Das Wall Street Journal nannte sie einst "Europe's most wired politician". Nun geht sie an die Stanford University als Expertin für internationale Tech-Politik. Zuvor spricht sie am 19. September um 18 Uhr im Wiener Mak bei den Tipping Point Talks über "Power of law or law of power? Why we need European leadership in governing technology globally." DER STANDARD sprach mit ihr im Vorfeld der Veranstaltung.

STANDARD: Facebook überlegt sich, die Zahl der Likes nicht mehr auszuweisen, weil dies zu einem ungesunden Rennen um die populärsten Einträge führt. Sind solche Selbstbeschränkungen der IT-Konzerne eine positive Entwicklung?

Schaake: Vielleicht begrüßenswert, aber das ist kein Kernthema. Wichtiger sind Fragen, wie sich etwa die Algorithmen der Konzerne auf die Gesellschaft auswirken und wer Zugang zu den Daten hat. Die Initiative von privaten Unternehmen entbindet uns nicht von der Aufgabe, die Gesetze und den Rechtsstaat durchzusetzen. Das ist derzeit nicht der Fall.

STANDARD: Um welche Gesetze geht es?

Schaake: Algorithmen werden von den Konzernen als Betriebsgeheimnis behandelt, in die der Staat nicht hineinschauen darf. Aber angesichts der Größe der Unternehmen ist das nicht angebracht. Wir kennen zwar nicht das Rezept von Coca-Cola, aber das heißt ja nicht, dass die Regulatoren nicht die Verbrauchersicherheit überprüfen oder gegen unfaire Wettbewerbspraktiken vorgehen dürfen. Es ist einfach nicht akzeptabel, dass so ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft außerhalb unserer Kontrolle steht. Wie viel unkontrollierte Macht darf man Systemen oder Menschen geben, die so viel Einfluss haben? Das ist die entscheidende Frage.

STANDARD: Hat die EU in diesem Bereich nicht schon viel getan, etwa durch die Datenschutzgrundverordnung und die Wettbewerbsstrafen gegen Google und Co?

Schaake: Die EU hat sich auf den Datenschutz konzentriert. Aber die fundamentale Frage, ob der Rechtsstaat in diesem Bereich eingehalten wird, hat nicht genug Aufmerksamkeit erhalten. Dafür brauchen wir oft keine neuen Gesetze, sondern nur die rigorose Anwendung der bestehenden.

STANDARD: Worauf sollen denn die Algorithmen überprüft werden?

Schaake: Wird bei Facebook oder Google gegen Minderheiten diskriminiert, wird der Wettbewerb verzerrt, sind die Interessen der Verbraucher gesichert? Technologie ist nicht grundlegend anders als andere Industrien. Auch Autohersteller können nicht einfach sagen: "Vertraut uns", sondern der Staat kontrolliert sie.

STANDARD: Es ist etwas schwieriger, einen Algorithmus zu kontrollieren als ein Airbag-System, oder?

Schaake: Es ist nicht einfach, aber machbar. Man kann Algorithmen mit Algorithmen kontrollieren. Wichtig ist, dass diese Formeln nicht mehr als Betriebsgeheimnis gelten, zu denen niemand Zugang hat. Wenn Gesetze nicht mehr durchgesetzt werden, dann erfüllen Regierungen nicht mehr ihre Aufgabe, dann ist der ganze Rechtsstaat in Gefahr.

STANDARD: Aber gibt es nicht auch Raum für Selbstregulierung, wenn sie von Kontrolle begleitet wird?

Schaake: Selbstregulierung scheitert oft, weil die Unternehmen nicht ehrlich sind. Wir haben Entscheidungen über die Meinungsfreiheit an Unternehmen in der Werbebranche übertragen. Das ist falsch. Wir dürfen nicht mehr den Eindruck erwecken, dass Verletzungen ohne Folgen bleiben. Wenn meine Eltern von Hackerangriffen und Cybercrime hören, bei denen niemand ins Gefängnis wandert, dann geht das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren.

STANDARD: Es werden doch Milliardenstrafen verhängt, vor allem von der EU-Kommission?

Schaake: Das ist zu wenig, wenn man es mit der Zahl der Vorfälle vergleicht. Und selbst eine großer Batzen Geld ist für einen Riesenkonzern nicht folgenreich genug.

STANDARD: Europa ist bereits strikter reguliert als etwa die USA. Kann die EU allein mehr tun?

Schaake: Zuerst einmal müssen bei uns die Gesetze durchgesetzt werden, dann brauchen wir internationale Kooperation. Die USA wachen auch langsam auf, etwa beim Schutz der Privatsphäre. Lange Zeit hat man sich lustig gemacht über die europäischen Sorgen, aber nun folgt Kalifornien dem Beispiel der EU. Ich bin überzeugt, dass Europa mit seiner Politik nicht allein bleiben wird.

STANDARD: Kalifornien ist anders als der Rest der USA. Kann auch Donald Trump ein Partner sein?

Schaake: Wir müssen in allen politischen Lagern Verbündete suchen. Wenn Trump die Social-Media-Konzerne attackiert, weil er sich unfair behandelt fühlt, dann treibt auch er die Debatte voran. Dann wissen mehr Menschen über die Probleme Bescheid.

STANDARD: Bei der Einführung im Vorjahr war viel davon die Rede, dass die Datenschutzgrundverordnung weltweit ein Vorbild sein wird. Davon hört man jetzt wenig.

Schaake: Wir sind bei der DSGVO noch in einer Frühphase. Aber Kaliforniens Entscheidung ist wirklich bedeutsam. Das ist die fünfgrößte Volkswirtschaft der Welt und die Heimat von Silicon Valley. Auch Microsoft hat DSGVO-Standards weltweit eingeführt. Die EU kann ihr globales Gewicht wirksam einsetzen.

STANDARD: Die Industrie warnt, dass Überregulierung die Innovation bremsen und Europa im Tech-Sektor dann noch weiter zurückfallen würde.

Schaake: Regulierung ist kein Hindernis für Innovation. Der Erfolg von Silicon Valley war auch das Ergebnis guter Regulierung und guter Gesetze. Der Schutz von Eigentumsrechten, fairer Wettbewerb, Computersicherheit und öffentliche Gesundheit: All das fördert Innovation.

STANDARD: Ist der Eindruck richtig, dass EU-Kommission und Europaparlament vorangehen und die Nationalstaaten bremsen?

Schaake: Nicht immer. Die Gesetze über Netzneutralität wurden in den Niederlanden angestoßen, und Deutschland ist voran bei der Löschung von umstrittenen Inhalten im Netz. Die Diversität unserer Erfahrungen gibt uns unterschiedliche Perspektiven. Die Kollegen aus dem Osten etwa erinnern sich noch gut an die Überwachung durch die Staatssicherheit. Das macht Europa stärker.

STANDARD: Aber entsteht in China nicht ein anderes Internet mit ganz anderen Regeln?

Schaake: China baut tatsächlich ein Internet, das vor allem der Staatsmacht und der Kontrolle dient. Es gibt dennoch Gemeinsamkeiten. Das Thema Cybersecurity verbindet, ebenso wie die Bedürfnisse des Finanzsektors. Auch China braucht eine funktionierende Digitalwirtschaft.

STANDARD: Was könnte die neue EU-Kommission in der Digitalpolitik besser machen als die letzte?

Schaake: Wir brauchen eine klare Vision, wo sich Europa positionieren will. Wir haben viele Einzelmaßnahmen, die nicht zusammenpassen. Das neue Urheberrecht erschwert Data-Mining. Was bedeutet das für die Entwicklung der künstlichen Intelligenz? Wir müssen genauer schauen, was in den USA und Asien geschieht. Wer anführt, kann globale Standards setzen und muss nicht die der anderen übernehmen. Wir brauchen mehr Ehrgeiz und mehr Tempo. Wir können viel erreichen, aber nicht, wenn wir einfach nur zuschauen, wenn die Tech-Konzerne handeln. (Eric Frey, 14.9.2019)