Die Ocean Viking kurz vor ihrer Ankunft in Lampedusa.

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Am Wochenende konnten 82 Flüchtlinge und Migranten, die sechs Tage zuvor von der Ocean Viking der Hilfsorganisationen SOS Mediterranée und Ärzte ohne Grenzen aus Seenot gerettet worden waren, in Lampedusa an Land gehen. Es war das erste private Rettungsschiff seit 14 Monaten, das seine geretteten Flüchtlinge mit der offiziellen Genehmigung aus Rom in einen italienischen Hafen bringen konnte. Die im Sommer 2018 von Ex-Innenminister Matteo Salvini beschlossene Politik der geschlossenen Häfen ist von der neuen Regierung aus Fünf-Sterne-Bewegung und dem sozialdemokratischen PD damit faktisch außer Kraft gesetzt worden.

Auch die Ocean Viking erhielt die Erlaubnis freilich erst, nachdem sich einige andere EU-Staaten bereiterklärt hatten, 58 der 82 Flüchtlinge zu übernehmen. Deutschland und Frankreich werden je 24 Migranten aufnehmen, Portugal deren acht, und zwei werden nach Luxemburg gehen. Die restlichen 24 Flüchtlinge bleiben in Italien. "Die für die Ocean Viking getroffene Lösung bedeutet das Ende von Salvinis Propaganda auf dem Rücken der Flüchtlinge und die Rückkehr zu guten internationalen Beziehungen und zur Suche nach tragfähigen Lösungen für das globale Problem der Migration", betonte Italiens Kulturminister Dario Franceschini vom PD.

Salvini den Wind aus den Segeln nehmen

Nach dem Willen der italienische Regierung soll das Vorgehen bei der Ocean Viking Modell für einen neuen Flüchtlingspakt auf EU-Ebene stehen: Jedes Mal, wenn ein Schiff mit geretteten Flüchtlingen um die Zuweisung eines sicheren Hafens ersucht, müsse auf europäischer Ebene automatisch ein Mechanismus in Gang gesetzt werden, mit dem die Migranten auf die Mitgliedstaaten verteilt werden, fordert Rom. Erst wenn die Verteilung geregelt sei, würde dem Rettungsschiff ein Hafen zugewiesen. Die Verteilung der geretteten Flüchtlinge sei "zwingend", hat Regierungschef Giuseppe Conte letzte Woche gegenüber der designierten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betont. Denn nur so könne man Salvini den Wind aus den Segeln nehmen.

Die Botschaft scheint angekommen zu sein: Deutschlands Innenminister Horst Seehofer hat letzte Woche erklärt, dass sein Land grundsätzlich bereit sei, jeweils 25 Prozent der aus Seenot geretteten Flüchtlinge zu übernehmen. Ähnliche Signale kamen auch aus Frankreich und anderen Staaten. Es sei höchste Zeit, sich von dem "quälenden Prozedere" zu verabschieden, bei dem die Flüchtlinge bei jedem einlaufenden Rettungsschiff einzeln über Europa verteilt werden mussten – und das teils erst nach wochenlangem Gerangel, betonte Seehofer. Die Übernahme von einem Viertel der Flüchtlinge der Rettungsschiffe werde Deutschlands Migrationspolitik "nicht überfordern".

Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge betroffen

Dies trifft zweifellos zu: Der angestrebte Mechanismus, der beim nächsten EU-Innenministertreffen am 23. September in Malta auf der Tagesordnung stehen wird, betrifft in Wahrheit nur einen sehr kleinen Teil der in Italien ankommenden Flüchtlinge und Migranten – eben die Geretteten. Von den über 6000 Menschen, die seit Anfang 2019 nach Italien gelangten, waren aber nur knapp 1000 von privaten oder staatlichen Rettungsschiffen gebracht worden – über 5000 kamen mit ihren eigenen Booten an. Diese fallen nicht unter den neuen Flüchtlingspakt – also auch jene 120 Flüchtlinge nicht, die am gleichen Tag, als die 82 Flüchtlinge der Ocean Viking an Land gingen, in den Hafen von Lampedusa einfuhren.

Und selbst von den wenigen geretteten Flüchtlingen wird voraussichtlich nur ein kleiner Teil in andere EU-Staaten ausgeflogen: Frankreich hat bereits klar gemacht, dass von einer neuen Regelung nur Flüchtlinge erfasst sein dürfen, die Aussicht auf Asyl oder einen anderen humanitären Schutztitel hätten. Sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge – die rund 85 bis 90 Prozent der Bootsflüchtlinge aus Afrika ausmachen – werde Frankreich nicht aufnehmen. Conte drängt deshalb auch auf verstärkte Bemühungen Brüssels, mit den Herkunftsländern Abkommen zur Rückübernahme auszuhandeln und diese, als Anreiz für die jeweiligen Staaten, mit der Zusage von Entwicklungshilfe zu verbinden.

EU-Mittel sollen gekürzt werden

Negative finanzielle Anreize fordert Conte dagegen für EU-Länder, die sich – wie die Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei – jeglicher Solidarität bei der Verteilung der Flüchtlinge verweigern. Diesen Ländern sollen nach dem Willen Roms die EU-Mittel gekürzt werden. Italien ist nach Deutschland, Großbritannien und Frankreich viertgrößter Nettozahler der Union, während die Visegrad-Staaten allesamt Nettoempfänger sind, mit Polen an der Spitze. Das heißt, dass die Italiener über die EU-Töpfe diejenigen Länder subventionieren, die ihnen keinen einzigen Flüchtling abnehmen. Die Kürzung der EU-Mittel ist auch schon von früheren italienischen Regierungen gefordert worden – hatte in Brüssel aber nie eine Chance. (Dominik Straub aus Rom, 15.9.2019)