Der kleine Jojo hat einen Freund, den nur er sehen kann: "Jojo Rabbit" von Taika Waititi (im Bild als Hitler) mit Scarlett Johansson als Mutter.

Foto: Tiff

Mit rund 250 Langfilmen im Programm ist das Filmfestival Toronto der quirligste Herbstevent dieser Art. Anders als in Venedig oder Ende September in New York lenken nicht nur kuratierte Schienen, sondern der brodelnde Markt quasi von selbst die Aufmerksamkeitsökonomie. Das generiert das ständige Surren einer nie abreißenden Mundpropaganda, den Rolltreppen gleich, die das Publikum in Hunderttausenden über elf Tage lang ins zentrale Scotiabank-Kino befördern.

Gerade in einer Zeit, in der dem Kino durch Streamingdienste der Raum strittig gemacht werde, meinte die New York Times über die jüngste Ausgabe von Tiff (so der Kurzcode), komme Filmfestivals mit ihrer weniger hierarchischen Programmlogik wieder größere Bedeutung zu: Sie würden Filme in Events verwandeln, ohne dass dafür ein Studio Millionenbudgets ausspucken würde.

Jojo Rabbit, die "Anti-Hass-Satire" des neuseeländischen Regiewunderknaben Taika Waititi, kam allerdings schon mit viel Vorab-Hype nach Toronto. Und bestand den Test: Der Film eroberte den Publikumspreis, der als wichtiges Indiz für den Oscar gilt (2018 lag Green Book voran). Waititi, 44 Jahre alt und laut Selbstdefinition "polynesischer Jude", nimmt den Ball von Chaplin und Lubitsch auf und inszeniert eine humanistische Nazi-Komödie, deren raffiniertes Spiel mit Hassdiskursen auch Widerhall in der Gegenwart erzeugt.

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Den burlesken Part, einen Slapstick-Gröfaz, verkörpert der Regisseur selbst. Der Führer ist der imaginäre Freund des zehnjährigen Jojo (Roman Griffin Davis), der auch gerne ein überzeugender Nazi wäre, dem es jedoch an Kaltblütigkeit fehlt – deshalb muss er sich bei Hitler ständig rückversichern. Ein Modell, das schnell kippt. Der Prüfstein wartet in der Gestalt des jüdischen Mädchens Elsa (Thomasin McKenzie), das der Bub in der Dachkammer entdeckt.

Spätestens mit dieser Konfrontation tritt das Erzähltalent Waititis in voller Pracht in Erscheinung (wenngleich seine poppige Nonchalance wohl noch für Diskussionen Sorgen wird). Zwischen den beiden entspinnt sich ein komisches Tauziehen um Ressentiments und Identitätsfragen, die dann die Lebenspraxis Stück für Stück wieder zertrümmern hilft. Scarlett Johansson übernimmt als Jojos Mutter einen weiteren wichtigen Part in dieser Umkehrung von Freund-und-Feind-Schemata.

Neben Jojo Rabbit gab es beim Tiff noch einige andere mit Spannung erwartete Weltpremieren. Etwa Knives Out, ein effizientes, aber etwas zu Vintage-verliebtes Agatha-Christie-Rip-off von Rian Johnson, mit All-Star-Cast und einem schmierigen Detektiv (Daniel Craig).

Schreien mit Adam Sandler

Ihren Stil noch befeuert haben dagegen die New Yorker Regiebrüder Josh und Benny Safdie. Im frenetischen Montagetakt von einem Schreiduell zum nächsten hantelnd erzählen sie von einem spielsüchtigen Diamantenhändler in Schuldennot. Uncut Gems ist vor allem ein Schaulauf für den sonst auf Komödien abonnierten Adam Sandler. Im Eilmodus muss er sich durch ein sich ständig neu justierendes Netz aus Abhängigkeiten manövrieren.

Es liegt nahe, den Film selbst als Rohdiamanten zu bezeichnen, gleich jenem, der darin oft den Besitzer wechselt: Darius Khondjis Kamera verwandelt die engen Innenräume in lichtfunkelnde Kojen, quasi Panikräume der Gier. Ein weibliches Gegenstück dazu fand man in Anne at 13.000 ft. vom Kanadier Kazik Radwanski: Er erstellt ein filigranes Porträt einer jungen Frau (Deragh Campbell), deren Humor nicht so richtig ankommen will. Ähnlich haptisch, aber lichter und sanfter zeigt der Film auf, wie eine, die auf der Erde anstößt, nur beim Fallschirmspringen richtig Luft holen kann.

Adam Sandler in "Uncut Gems" von Josh und Benny Safdie
Foto: Tiff

Uncut Gems wurde übrigens von Netflix gekauft. Neben der gut gelaunten Eddie-Murphy-Komödie Dolemite is My Name, in dem dieser als schmerbäuchiger Blaxploitation-Regisseur Rudy Ray Moore brilliert, und Noah Baumbachs umjubeltem Scheidungsdrama Marriage Story konnte der Streamingdienst damit einen weiteren Coup landen.

Die Vielfalt des Festivals spiegelt sich im Distributionsbereich damit nur bedingt wieder. Allerdings meldet auch Apple einen Ersteinkauf bei Tiff: Bryce Dallas Howards Dokumentarfilm Dads. Nächstes Jahr kann also alles schon ganz anders aussehen (Dominik Kamalzadeh, 17.9.2019)