Der Gossenjargon der FPÖ sei nicht akzeptabel, sagt Klaus Maria Brandauer. Er fordert Wachsamkeit ein.

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Die neue Direktion schlug Klaus Maria Brandauer vor, auf der großen Bühne des Wiener Burgtheaters aus Die Tagesordnung zu lesen (Mittwoch, 20 Uhr). In dieser raffinierten Engführung historischer Ereignisse, erschienen 2018, erzählt Goncourt-Preisträger Éric Vuillard die Umstände der nationalsozialistischen Machtergreifung nach: als multiples Versagen vor allem derjenigen, die guten Willens waren.

Sichtbar wird eine ebenso krude wie pointierte Abfolge von Pannen im Dunstkreis der Eliten. Waren die Demokratien in den Jahren von 1934 bis 1938 überhaupt zu retten? Der Weltstar Brandauer (76) macht in den Zeiten von Populismus und Biertischrhetorik kein Hehl aus seiner aktuellen Besorgnis: "Etwas mehr Wachsamkeit stünde uns demokratischen Staatsbürgern gut an!"

STANDARD: Kann man bei jungen Menschen ein Wissen darüber voraussetzen, wer Kurt Schuschnigg war? Wie demütigend die Umstände seines Vorsprechens bei Hitler auf dessen Berghof waren?

Brandauer: Zumindest ist dieses Kapitel unserer Geschichte in den Medien präsent. Beim Lesen des Vuillard-Buchs war ich überrascht, wie viel ich über Hitlers Wege zur Machtergreifung wusste. Aber die entscheidende Frage ist doch: Wie verhalten sich die Dinge bei uns heute?

STANDARD: Vuillard schildert, wie Hitler vor den März-Wahlen 1933 die ökonomische Elite Deutschlands im Reichstagspalast versammelt. Er schmeißt eine Fundraising-Party für die Nazis. Wie konnte das passieren? Hitler roch laut Kurt Tucholsky "nach Hosenboden", war eigentlich nicht satisfaktionsfähig.

Brandauer: Man hatte mit diesem Kerl, der so durchdringend nach Hosenboden roch, bereits seit einiger Zeit gerechnet. Industrie und Finanz hatten sich versammelt, um einem Mann zu huldigen, der erfolgreich andere nach seiner Pfeife tanzen ließ. Jetzt ging es für Hitler um die Erringung der Regierungsmacht. Und die Uneinigkeit der anderen Parteien hat immer wieder verhindert, dass sein Aufstieg gestoppt wurde.

STANDARD: Fazit?

Brandauer: Auf uns heute bezogen: Wir müssen sehr aufmerksam sein und alle an einem Strang ziehen, um politisch Schlimmes zu verhindern. Vom rauen Klima dürfen wir uns dabei nicht beirren lassen, auch wenn es beängstigend ist. Anstand und Menschlichkeit werden negiert, man reizt auch rhetorische Grenzen hemmungslos aus.

STANDARD: Man droht, wie soeben auf dem FPÖ-Parteitag passiert, politischen Mitbewerbern mit einer "rechten Geraden"?

Brandauer: Das sind Ausdrucksweisen, die einfach nicht akzeptabel sind. Das ist Gossenjargon, und der kommt aus dem Mund eines Politikers, der zu jener Klasse gehört, die uns politisch repräsentieren soll! Und was es noch schlimmer macht: Ein solches Sprachhandeln bettelt um Nachahmung.

STANDARD: Das meint, zurückgespiegelt auf die Ereignisse von 1938?

Brandauer: Heute sind wir im Rückblick sehr nachvollziehbar der Meinung: Es konnte gar nicht anders ausgehen. Mit Blick auf aktuelle Debatten kann ich nur meine Beunruhigung zu Protokoll geben. Ich bin Schauspieler. Wenn ein Mensch wie ich durch seinen Beruf die Möglichkeit hat, sein Unbehagen darüber auszudrücken, was ihm nicht gefällt, so ist das ein Privileg. Ich habe das immer getan. Nur ist die Situation womöglich noch nie so brisant gewesen, das Farbebekennen noch niemals so notwendig wie heute.

STANDARD: Sie würden keine Videobotschaft für einen der wahlwerbenden Kandidaten anfertigen?

Brandauer: Nein, ich hatte immer und ich habe nach wie vor einen klaren Standpunkt, aber ich eigne mich nicht für solche Bekenntnisse. Gelegenheiten dafür hätte es mehr als genug gegeben. Aber ich habe noch nie direkte Werbung für jemanden gemacht. Menschen, die mich kennen, wissen, wo ich stehe. Ich tausche mich im privaten Kreis aus, und das regelmäßig und deutlich. In aller Freiheit, denn man muss sich auch vergaloppieren können. Nur so kommt man in einer demokratisch verfassten Gesellschaft auch zu Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten.

STANDARD: Ließen sich solche Klärungen nicht auch im Schoß einer politischen Partei herbeiführen?

Brandauer: Mein Vater oder mein Großvater würden es mir wahrscheinlich ankreiden, dass ich bis heute bei keiner Partei bin. Aber mein Lebensweg war ein anderer.

STANDARD: Sie lesen auch, wie sich Schuschnigg auf dem Obersalzberg von Hitler hat einschüchtern lassen?

Brandauer: Frankreichs Premierminister Daladier kommt von der Münchner Konferenz heim nach Paris. Der Weltfriede scheint mit den Zugeständnissen an Hitler noch einmal gerettet. Aufrichtiger Jubel brandet ihm entgegen. Doch Daladier antwortet: "Ihr habt überhaupt keine Ahnung!" Éric Vuillard schreibt lauter solche Details. Literatur darf das.

STANDARD: Die Parallelen zur heutigen Situation?

Brandauer: Die sind mit den Händen zu greifen, und zwar nicht erst seit gestern. Die Wellen der Inhumanität brandeten in unseren Gesellschaften immer wieder hoch. Demokratie ist kein Selbstläufer, sondern muss permanent und sorgsam gepflegt werden. Das fängt bei den kleinsten Dingen an!

STANDARD: Es fehlt uns an Wachsamkeit?

Brandauer: Bleiben wir bei Vuillards Schilderung. Der deutsche Einmarsch in Österreich zeichnet sich ab. Im Untergrund werkten die illegalen Nazis, es fehlte praktisch allen der Glaube an die Lebensfähigkeit der Nachfolgestaaten der Donaumonarchie. Und Schuschnigg fährt zu Hitler, getarnt als Skifahrer. Und hinter seinem Rücken rechnen von vornherein alle mit seinem Scheitern. Und jetzt die Frage an alle nachträglichen Besserwisser: Was hätten wir denn gemacht?

STANDARD: Was hätte einer von uns gemacht?

Brandauer: Da stehe ich noch nicht vor den nachmaligen Verbrechen, noch nicht vor Konzentrationslagern. Da befinde ich mich einfach in den Nachkriegswirren. Und Vuillard schreibt: Wir dürfen kein zweites Mal in eine solche Lage hineinschlittern. Wir müssen stehen und dagegendrücken, vielleicht wie eine Katze einen Buckel machen! Ich beklage unsere Passivität. Die "Einzelfälle" werden immer mehr, also zählt sie niemand mehr. Wäre ich nicht so aufgeregt, müsste ich eigentlich sagen: Gibt es etwas Langweiligeres als die aktuelle Wahlauseinandersetzung? Wir haben uns an die Ungeheuerlichkeiten gewöhnt. (Ronald Pohl, 17.9.2019)