Am Tag nach der Neuwahl steht Israel dort, wo es bereits nach der Parlamentswahl im April gestanden ist: vor dem politischen Stillstand. Zwar dürfte es Herausforderer Benny Gantz mit einem Sitz Vorsprung auf 33 Mandate bringen – damit wäre er der Gewinner der Wahl. Doch eine natürliche Regierung mit dem eigenen Lager dürfte er genauso wenig zustande bringen wie Premier Benjamin Netanjahu. Der war bereits im Mai mit der Regierungsbildung gescheitert, weswegen Neuwahlen ausgerufen wurden. Das Land ist gespalten, die Fronten verhärtet. Welche Lösungen und welche Bündnisse scheinen jetzt noch möglich?

Tim Cupal (ORF) berichtet aus Tel Aviv.
ORF

Im Gespräch ist am Tag nach der Wahl vor allem die große Koalition. Auch Herausforderer Gantz zeigte sich am Mittwoch interessiert: "Lange waren wir mit Kampagnen beschäftigt, jetzt ist die Zeit gekommen, an dem zu arbeiten, was wichtig ist. Ich wünsche dem Staat Israel eine starke Einheitsregierung." Zu Gesprächen mit dem Likud zeigte er sich bereits im Vorfeld bereit – wenn Netanjahu nicht mehr an dessen Spitze steht. Dem Premier droht die Anklage in drei Korruptionsfällen wegen Betrugs, Bestechlichkeit und Untreue. Er will jedoch auch im Fall einer Anklage weiterregieren. Fraglich ist allerdings, ob seine eigene Partei ihn als Chef weiterhin tragen wird –gerade jetzt, da es ihm nicht gelungen ist, den Likud zur stärksten Kraft im Parlament zu machen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Gantz möchte eine große Koalition, allerdings ohne Netanjahu.
Foto: Reuters/Ammar Awad

Große Gewinner der Wahl

Ins Spiel gebracht hatte die Idee einer Einheitsregierung Königsmacher Avigdor Lieberman – lange vor der Wahl. Der Chef der Partei Jisra'el Beitenu (Unser Haus Israel) gilt als großer Gewinner der Neuwahlen: Er kommt nach aktuellstem Stand auf neun Sitze, knapp doppelt so viele wie noch im April. Mit seiner Kompromisslosigkeit gegenüber den Ultraorthodoxen hatte er die Koalitionsverhandlungen im Mai platzen lassen. Er will zwar Teil einer Regierungskoalition werden – allerdings ohne die ultraorthodoxen Parteien. Die sind mit voraussichtlich 17 Stimmen für eine rechte Regierung aber unerlässlich.

Königsmacher Lieberman.
Foto: AFP_Jalaa Marey

Lieberman plädiert deshalb für eine große Koalition mit dem Likud und dem Bündnis Blau-Weiß. Seine politischen Forderungen machte er am Mittwoch noch einmal deutlich: Er will die Zivilehe in Israel, öffentliche Transportmittel am Schabbat und den Unterricht von Grundlagenfächern an ultraorthodoxen Grundschulen. "Eine nationale Einheitsregierung oder eine große liberale Koalition – wir werden keiner anderen Option beitreten. Von unserem Standpunkt aus gibt es keine anderen Optionen", sagte Lieberman. Eine Regierung mit Netanjahu an der Spitze schloss er nicht aus.

Zweiter Gewinner

Eine Koalition mit der Vereinigten Arabischen Liste nannte Lieberman hingegen "absurd". Die gilt als zweiter großer Gewinner der Wahl: Die bislang bekannten Hochrechnungen sehen die Vereinigte Liste bei 12 Mandaten – sie ist damit drittstärkste Kraft im Parlament. Der Vorsitzende Ayman Odeh möchte nun Oppositionsführer werden und damit auch das Recht erhalten, an Sicherheitsberatungen teilzunehmen. Im Fall einer großen Koalition wäre die Vereinigte Liste in der Tat stärkste übrige Kraft.

Für eine Mitte-links-Regierung mit der Demokratischen Union (fünf Sitze), dem Bündnis aus Awoda und Gescher (sechs Sitze) sowie Blau-Weiß an der Spitze wäre die arabische Liste zwar unabdingbar. Allerdings ist es höchst unwahrscheinlich, dass Benny Gantz mit den arabischen Parteien koaliert – zumal er dann immer noch nicht auf die nötigen 61 Sitze käme.

Schlechte Karten für Netanjahu

Netanjahu kämpft unterdessen um sein politisches Überleben. Doch für eine rechte Regierung fehlen ihm nach derzeitigem Stand noch sechs Sitze. Mit den beiden ultraorthodoxen Parteien (sieben und acht Sitze) sowie dem Rechtsbündnis Yamina (sieben Sitze) kommt er auf nur 55 Mandate. Möglich schien in den Wochen vor der Wahl, dass sich das Bündnis aus Arbeiterpartei Awoda und Gescher dazu bereiterklärt, einer rechten Regierung beizutreten. Die einst ehrwürdige Awoda war bei der vergangenen Wahl auf sechs Sitze abgestürzt und hatte sich vor der Neuwahl in einem überraschenden Schritt mit Gescher verbündet, die es im April nicht über die 3,25-Prozent-Hürde geschafft hatte. Gescher wird eher rechts der Mitte verordnet, was manchen Beobachtern als Zeichen galt, dass die Arbeiterpartei eventuell auch für eine Rechtskoalition zu haben wäre.

Bild nicht mehr verfügbar.

Für Netanjahu wird es knapp.
Foto: Reuters/Ammar Awad

Auch Netanjahu hatte diese Möglichkeit im Auge und fragte am Mittwoch bereits an – bekam aber eine Absage. Es sieht also schlecht aus für ihn. Die Tageszeitung "Haaretz" schrieb am Mittwoch, dem "Magier Netanjahu" seien die Kaninchen ausgegangen. Die hatte er – der Meister der Politik – bislang noch in allen Situationen aus dem Hut gezaubert. Staatspräsident Reuven Rivlin wird nun die Aufgabe haben, eine Partei mit der Regierungsbildung zu beauftragen.

Für gewöhnlich ist es die Partei mit den besten Chancen und den meisten Sitzen. Noch lassen die offiziellen Zahlen des Zentralen Wahlkomitees auf sich warten: Um Fehler zu verhindern und dem Verdacht auf Wahlfälschung nachzugehen, hat das Komitee das Verfahren geändert, wodurch die offiziellen Updates länger auf sich warten lassen als bisher. Israelische Medien berufen sich auf Quellen im Wahlkomitee. Doch nach derzeitigem Stand sieht es nicht so aus, als ob der Likud den Auftrag erhalten wird. Was dann passiert, könnte den Anfang des Endes von Netanjahus politischer Karriere bedeuten. (Lissy Kaufmann aus Tel Aviv, 18.9.2019)