Sie sollten so einatmen als würden sie an einem (Alu-)Strohhalm ziehen. Den Mund dabei geschlossen halten. Tief einatmen. Beim Ausatmen sich vorstellen, eine Scheibe anzuhauchen. Den Mund auch dabei geschlossen halten. Die Gedanken ziehen lassen. Ganz bei sich sein. Den Rücken aufrichten. Schultern nach unten drücken. Die Rumpfmuskulatur strecken.

Es strömte zarte Luft in ihre Köpfe ein, die sie sonst geneigt hielten. Es bedeutete einen enormen Sechskilokraftakt, den Kopf nach vorne unten gebeugt tagtäglich das Smartphone zu studieren. Auf den Sitzknochen spürten sie die Holzlatten unter ihnen. Eine trügerische Glätte dominierte den See. Der "Ibiza sky" spiegelte sich in ihm wider. Sie führten ihren Blick herabschauend in den Hund, nachdem sie kobraförmig den Himmel betrachteten, der an diesem Tag von keiner Wolke gestört wurde. Eine sanft hügelige Berglandschaft in der Ferne. Auf einem Gupf wipfelte ein hölzernes Parfumfläschchen. Sie atmeten wieder ein, knieten nieder, formten Katzen und Kühe, atmeten wieder aus.

Foto: Katharina Ingrid Godler

Ein Jahr Urlaub

Die Yogagruppe traf sich wöchentlich auf dem Steg für eine Miracle Morning Practice, in einer Zeit, in der Kinder ihre Hamster in die Mikrowelle steckten, in der Spaghetti durch Zoodles ersetzt wurden und in der die Nackten im Netz Schritt für Schritt von Katzen, Zimmerpflanzen und herrlich inszenierten Mahlzeiten verdrängt wurden. Sojabohne statt Kuh. Eberraute statt Cola. Kürzlich ging Club Mate aus. Der Apfel lag neben der Bluetoothbox. Es gab südamerikanischen Amaranth aus Indien, gepufft. Das Spätsommerlicht ließ die Wiese glitzern.

Lena atmete noch einmal tief ein, hob die Arme seitlich gestreckt nach oben, faltete die Hände zusammen, öffnete die Augen und sah, dass es gut war. Es folgte aber kein gemurmeltes, in die Jahre gekommenes Amen, sondern ein zögerliches Namaste. Lena war sich noch nicht so sicher, wie sie sich im neuen Zeitalter fühlte, in dem die Bibel durch Ernährungsfibeln ersetzt wurde, in dem sie zu jeder Uhrzeit erreichbar war, in dem sie sich in der Früh auf ihre Açaí Bowl mit Granola freute. Sie war etwas aus der Zeit gefallen, insbesondere seit sie nach mehreren Versuchen, Karrierefrau zu werden – erst als Informatikerin, dann als Literaturwissenschaftlerin – kündigte und sich entschied, "ein Jahr Urlaub" vom Leben zu nehmen.

Es war eine zerrissene Zeit, ein nervöses Zeitalter, in der sich eine neue noch unbekannte virtuelle Realität eröffnete, in der die selbstfahrenden Autos prognostiziert wurden, in der man sich stritt, welche Verkehrsregeln für E-Scooter galten, ob Helmpflicht für sie bestünde oder nicht. Eine Zeit, in der es sich eine Künstlerin in einer Litfaßsäule gemütlich machte.

Hoffnungslose Lage

Lena brach nach der Yogaeinheit auf, verließ das Bad, setzte sich auf ihr Rad und überquerte einen Kinderspielplatz. Kurz blieb sie stehen, hielt inne, bestaunte die blühenden Gladiolen und hörte in der Ferne ein Kind singen: "Eine kleine Mickey Mouse geht ins Krankenhaus, wird repariert und explodiert."

Manchmal hatte Lena das Gefühl, ihr Kopf würde vor lauter Eindrücken, Dingen, Gesprächen, Begegnungen in dieser schnelllebigen Welt explodieren, aber an den Morgen, an denen sie früh zum Yoga aufbrach, fühlte sie sich entschleunigt. Und wenn nicht, blieb ihr immer noch Paul Watzlawicks Haltung: "Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst." (Katharina Ingrid Godler, 3.10.2019)

Katharina Ingrid Godler auch bekannt als Krähe Edeltraud, schreibt Texte über die Sprachpolizei, über Goldruten und Lehrerinnen. Bisher forschte sie zu Ilse Aichinger und Robert Musil (Tätigkeiten an der Uni Wien, an der ÖAW und zuletzt im Musil-Institut der AAU).

Fingerzeig

  • "Ibiza sky" stammt aus dem Lied We're going to Ibiza von der Musikgruppe Vengaboys, 1999.
  • The Miracle Morning ist eine etwas umstrittene Buchreihe (da von Amazon gesponsert) von Hal Elrod, 2012.
  • Die Zitate "ein Jahr Urlaub" und ein nervöses Zeitalter (indirektes Zitat) stammen aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1 und 2 der Gesamtausgabe.
  • Die Paul-Watzlawick-Tage finden von 18. bis 20. Oktober 2019 in Warmbad-Villach statt.