Ex-Ministerin Maria Berger hat Zweifel, dass Einschnitte in der Justiz in Österreich für große Proteste sorgen würden.

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Sie war SPÖ-Justizministerin in Österreich und zuletzt Richterin am Europäischen Gerichtshof (EuGH). Nach ihrer Rückkehr startete Maria Berger die Initiative "Rettet die Justiz", weil die Zustände in Österreich sie "besorgt" machten, wie sie erklärte. Die Petition steht derzeit bei 12.600 Unterschriften.

STANDARD: Warum sehen Sie die Justiz in Gefahr?

Berger: Verantwortliche in der Justiz haben mir Zustände geschildert, dass ich ganz entsetzt war. Es können die Grundfunktionen nicht mehr erfüllt werden. Bezirksgerichte müssen ihre Tätigkeit einschränken und Notfallpläne erarbeiten. Man muss bedenken, dass die Justiz ein Dienstleistungsunternehmen ist, von der Grundbucheintragung über Scheidungen bis hin zu Strafverfahren. Wenn man auf alles ewig warten muss, ist das problematisch. In Strafverfahren können womöglich Beweise gar nicht mehr verwertet werden, weil sie zu alt sind. Wenn die Justiz nicht mehr funktioniert, geht letztlich das Vertrauen in den Staat verloren.

STANDARD: Geht es nur um Geldmangel oder auch um andere Fehlentwicklungen?

Berger: Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt, eine Lobbyingorganisation für rechtsstaatliche Anliegen zu gründen. Am Europäischen Gerichtshof habe ich die Entwicklungen in Ungarn und Polen gesehen, die Beschneidung von Verfassungsgerichten. Dort war es sehr wichtig, dass es eine sehr aktive Zivilgesellschaft gegeben hat, wo Hunderttausende auf die Straße gegangen sind. Da dachte ich: Sollte so etwas auch in Österreich passieren, will ich, dass auch hier der Rechtsstaatsgedanke gut verankert ist.

STANDARD: Sie schließen nicht aus, dass es auch in Österreich so weit kommt wie in Ungarn und Polen?

Berger: Es hat schon einzelne Anzeichen gegeben. Aussagen wie "Das Recht muss der Politik folgen" oder dass die Menschenrechtskonvention infrage gestellt wurde zum Beispiel. Genauso hat es in Polen auch begonnen. Dort müssen sich unabhängige Richter vor ein Disziplinargericht stellen, wenn sie internationales und europäisches Recht anwenden. Da wird man dann schon hellhörig, wenn man ähnliche Ankündigungen in Österreich hört.

STANDARD: Sie glauben, die Österreicher seien weniger wachsam, was drohende Einschnitte betrifft?

Berger: Sagen wir so: Ich will es nicht austesten müssen. Mein Eindruck ist, dass das Funktionieren der rechtsstaatlichen Institutionen zwar geschätzt wird, aber als Selbstverständlichkeit hingenommen wird. Ob sich da viele bewegen lassen würden, auf die Straße zu gehen, wenn es Eingriffe gäbe in die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtshofs, da hätte ich so meine Zweifel. Es wird gern delegiert an die damit professionell Beauftragten. Aber warum müssen die Richter allein dafür kämpfen, dass die Justiz ordentlich ausgestattet ist? Es sollte doch ein generelles Anliegen sein.

STANDARD: Sebastian Kurz hat zu den Problemen in der Justiz sinngemäß gesagt, dass es in jedem Ressort Probleme gebe und dass jeder Minister mehr Geld fordert.

Berger: Ja, das war enttäuschend. Er hat auch gesagt, man könnte einsparen, indem man mehr ausländische Strafgefangene in ihre Heimatländer zurückschickt. Aber das wird ja laufend gemacht, und das allein wird das Justizbudget nicht retten.

STANDARD: Die Gefängnisse sind überfüllt, zugleich werden die Strafen für Gewalttaten angehoben – Stichwort Gewaltschutzpaket. Wie bewerten Sie das?

Berger: Wenn man der Meinung ist, dass die Strafrahmen zu niedrig sind, dann darf die Zahl der Insassen in den Haftanstalten keine Rolle spielen, ich muss dann einfach schauen, dass ich dort mehr Plätze habe. Das Problem liegt eher darin, dass man falsche Erwartungen daran knüpft und glaubt, dass mit höheren Strafen diese Straftaten zurückgehen. Aber es ist ja nicht der Strafrahmen, der abschreckend wirkt, sondern die Möglichkeit der Opfer, schnell Hilfe zu finden. Ich muss Frauenhäuser und Anti-Gewalt-Trainings finanziell stützen. Genau da ist aber brutal gekürzt worden unter der letzten Regierung.

STANDARD: Sie waren lange in Brüssel, Straßburg, Luxemburg. Wie wurden Sie da auf Österreich angesprochen, wie wird Österreichs Handeln auf EU-Ebene wahrgenommen?

Berger: Österreich hat seit dem EU-Beitritt nie das große Leitthema gefunden. In skandinavischen Ländern wäre dieses Leitthema etwa Transparenz und Informationsfreiheit. Österreich hatte immer eher belächelte Themen wie Anti-Gentechnik. Es war weniger zukunftsorientiert und eher ein "Anti! Anti!".

STANDARD: Was ist das große Antithema Österreichs heute?

Berger: Man ist für möglichst wenige Befugnisse für die EU. Also möglichst wenig Budget, möglichst wenige Kompetenzen, mehr Kompetenzen für Österreich – ohne je ein konkretes Thema zu nennen, wo das sinnvoll wäre. Die ganze Subsidiaritätsdebatte hört ja immer sofort auf, wenn man konkreter nachfragt. Vor allem in einer Zeit, wo wir eher mehr EU brauchen als weniger: gemeinsame Außenpolitik, Stärkung der gemeinsamen Wirtschaftskompetenzen. Das wäre auch in Österreichs Interesse.

STANDARD: Immer wieder beschließt Österreich Gesetze, die dann vom Verfassungsgerichtshof oder vom EuGH gekippt werden. Täuscht der Eindruck oder nimmt das zu?

Berger: Es nimmt zu. Ein Beispiel ist die Indexierung der Familienbeihilfe für Kinder von EU-Ausländern: Es ist fix, dass das nicht vorm EuGH halten wird. Das wissen alle, und das war auch der Regierung Kurz bewusst. Man spielte aber offenbar damit, dass man nachher wieder sagen kann: Der böse Europäische Gerichtshof, der zwingt uns, so viel Geld ins Ausland zu überweisen, der nimmt uns eine Einsparmöglichkeit weg.

STANDARD: Also ein Marketingschmäh?

Berger: Ja, ein Gag. Und ein Ausspielen der europäischen Ebene gegen die nationale. Dann wundert man sich, wenn eine Anti-EU-Stimmung entsteht. Deutschland und Dänemark haben ja Ähnliches überlegt und davon Abstand genommen, weil man wusste, das ist gegen EU-Recht. Österreich hat es gemacht und genau gewusst, es wird nicht lang halten.

STANDARD: Gab es diesen Fingerzeig auf das böse Brüssel nicht auch unter SPÖ-Regierungen?

Berger: Ja, das gibt es schon länger. Man hat immer versucht, die rechtlichen Möglichkeiten auszureizen, oft war nicht ganz eindeutig, ob alle Punkte beim VfGH halten werden. Aber wenn der Verfassungsdienst früher gesagt hat, bitte dieses Gesetz ist verfassungswidrig, dann hat man die Finger davon gelassen. Das ist heute anders, man heizt es zusätzlich auf.

STANDARD: Wie erklären Sie sich das?

Berger: Das hat mit der Einstellung "Politik geht vor Recht" zu tun.

STANDARD: Die ist auch in der ÖVP verbreitet?

Berger: Das wäre vielleicht zu scharf gesagt. Aber um kurzfristig Erfolg als Partei zu haben, reizt man es bis zum Anschlag aus.

STANDARD: Sie meinen, dass Parteiinteressen vor Staatsinteressen gestellt werden?

Berger: Ja, sicher. Was hat denn der Staat von der Indexierung? Wenn sich in einem Jahr herausstellt, dass es rechtswidrig ist, muss alles nachgezahlt werden. Ein kurzer Marketinggag, der fürs Budget nichts bringt, für Österreich aber einen Imageverlust.

STANDARD: Als Justizministerin hatten Sie Parteienkorruption im Visier. Hat Sie die Ibiza-Affäre überrascht?

Berger: Ja, schon. Das Ungenierte – dass eine angeblich heimattreue Partei das österreichische Wasser verkaufen will. Und auch die Naivität zu glauben, wenn ein Befreundeter die Kronen Zeitung besitzt, dann verhilft das der FPÖ zum Wahlsieg. Der Konnex zwischen Medien und Wahlerfolg ist nicht mehr so eindimensional, wie es da dargestellt wird. (Maria Sterkl, 19.9.2019)