Die "Grenzgemeinden gegen den Brexit" in Aktion in Newry in Nordirland.

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Erstmals hat die Regierung in London am Donnerstag der EU schriftliche Unterlagen zur Verfügung gestellt, in denen die Wünsche der Briten bezüglich Änderungen am Austrittsvertrag aus der EU skizziert sind.

Warten auf klare Aussagen

Seit Monaten wartet die EU auf klare Aussagen aus London. Ein mit der ehemaligen Premierministerin Theresa May ausgehandelter Deal ist im Londoner Parlament mehrfach gescheitert und wurde nur vonseiten der EU ratifiziert. Mays Nachfolger Boris Johnson spielt auf Zeit, um den Druck auf Brüssel zu erhöhen und seine eigene Verhandlungsposition zu verbessern.

Mit den nunmehr offenbar vorliegenden britischen Ideen gibt es erstmals so etwas wie Bewegung in einer völlig festgefahrenen Situation. Zumindest zeigen dies vorsichtig positiv formulierte Stellungnahmen aus Brüssel und Dublin. Irlands Außenminister Simon Coveney sieht zwar keinen Wendepunkt, jedoch eine verbesserte Stimmung. Und Noch-EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker erklärte, dass er eine Vereinbarung für möglich halte, auch wenn er nicht wisse, ob die Chance bei mehr als 50 Prozent liege.

Rückversicherung

Zentraler Knackpunkt ist der sogenannte Backstop, die "Auffanglösung". Dabei handelt es sich um eine Klausel im Austrittsabkommen, mit der Fragen bezüglich der inneririschen Grenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland geregelt werden.

Aufseiten Brüssels ist klar: Es kann keinen Austrittsvertrag geben, ohne dass dieser eine Notfalllösung für die irische Insel enthält. Der Backstop soll eine Rückversicherung sein, falls sich London und Brüssel nach erfolgtem Brexit nicht bis Ende 2020 auf eine andere, bessere Regelung einigen. Eine einseitige Kündigung des Backstops durch London ist im Abkommen nicht vorgesehen.

Auf diese Weise soll verhindert werden, dass die innerirische Grenze mit einem Schlag eine EU-Außengrenze mit allen Konsequenzen wird. Die Republik Irland ist von den Folgen des Austritts Großbritanniens betroffen wie kein zweiter EU-Staat. Der überwiegende Teil der irischen Exporte – rund 85 Prozent – wird über das Gebiet des Vereinigten Königreichs Richtung Frankreich abgewickelt. Bei den nach Irland importierten Waren verhält es sich analog. Nachdem May im März 2017 den Artikel 50 des EU-Vertrags aktiviert hatte und damit den Austritt des Vereinigten Königreichs einleitete, forderte Irland eine Zollunion mit Nordirland.

Die Backstop-Lösung bedeutet umgekehrt aber, dass dadurch weiterhin alle Regeln des EU-Binnenmarkts in Großbritannien aufrecht bleiben, Zollkontrollen an der inneririschen Grenze könnten daher entfallen. Für die Brexiteers ist der Backstop jedoch genau daher inakzeptabel, da dies sozusagen ein Verbleib in der EU durch die Hintertüre wäre. Freihandelsabkommen des Vereinigten Königreichs mit anderen Ländern wären in dieser Konstellation nicht möglich, ein zentrales Versprechen der Brexit-Kampagne.

Barnier-Vorschlag

Michel Barnier, der Chefverhandler der EU, hatte vorgeschlagen, Grenzkontrollen in der Irischen See durchzuführen. Damit verbliebe nur Nordirland im EU-Binnenmarkt. Die nordirische Unionistenpartei DUP hat sich jedoch gegen diese Lösung ausgesprochen. Auch Theresa May sah in diesem Lösungsvorschlag eine Gefährdung der britischen Union. Die DUP war ein entscheidender Koalitionspartner für Mays Regierung, doch Boris Johnson ist von der DUP insofern weniger abhängig als May, als er seine Mehrheit im Parlament ohnehin schon verloren hat, weil ihm scharenweise Mandatare seiner eigenen Partei abhandengekommen sind.

Jahrzehntelanger Konflikt

Das Thema Backstop erhält nicht zuletzt dadurch eine explosive Kritikalität, dass der Nordirland-Konflikt durch die Folgen des Brexits erneut angefacht werden könnte. Tausende Menschen starben während der "Troubles" zwischen den katholischen Kämpfern für eine irische Einheit und den protestantischen Unionisten und Loyalisten. Erst 1998 wurde der seit den 1960er-Jahren laufende Konflikt mit dem Karfreitagsabkommen beendet. Zwar wird die Frage der Grenze im Karfreitagsabkommen nicht berührt, doch der Abbau der Sicherheitseinrichtungen an selbiger stellt eine Grundlage der Befriedung der verfeindeten Bevölkerungsgruppen dar. Die rund 400 Kilometer lange Grenze ist im Alltag unsichtbar geworden. Werden durch den Brexit neue Grenzkontrollen nötig, droht auch eine neue Spaltung der Gesellschaft. (Michael Vosatka, 20.9.2019)