Im Gastkommentar hält der ehemalige britische Minister Mark Malloch-Brown fest, dass rationale Entscheidungen im Vereinigten Königreich inzwischen so gut wie unmöglich seien. Die politischen Intrigen um den Brexit würden die Fiktion überflügeln.

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Boris Johnsons Weg zum Brexit ist kein leichter. Nicht nur die Schotten legen ihm Steine in den Weg, auch die Freigabe des "Operation Goldhammer"-Dokuments schadet ihm.
Foto: AP Photo/Alberto Pezzali

Die neuesten Brüche innerhalb der Konservativen Partei – darunter der Rauswurf von 21 Parlamentarieren, die sich Boris Johnsons Brexit-Ansatz widersetzt hatten – scheinen Konsequenzen von historischen Ausmaßen nach sich zu ziehen. Der Oberste Gerichtshof, der sich derzeit anschickt, über mehrere gegen die Regierung Johnson angestrengte Gerichtsverfahren zu entscheiden, sieht sich in eine ähnliche Rolle gedrängt wie die seines amerikanischen Gegenstücks. Einerseits könnten die Briten hierüber entsetzt sein. Andererseits dürfte große Erleichterung darüber bestehen, dass es trotz des derzeitigen Anschlags auf Großbritanniens ungeschriebene Verfassung zumindest noch ehrliche Richter gibt, die für diese eintreten.

Die neuen Debattenpunkte kamen während des spätabendlichen Chaos im Unterhaus auf, bevor das Parlament am 9. 9. kurzerhand geschlossen wurde. Während der surrealen Stunden, als die Mitglieder des normalerweise recht beschaulichen Oberhauses einen seltenen Filibuster durch Regierungsanhänger brachen, traf ich dort zufällig Michael Dobbs, den Verfasser von "House of Cards". Wir fragten uns, was es für ihn noch zu schreiben gäbe, nun, da das reale politische Intrigenspiel die Fiktion derart überflügelt habe. Der schurkische Protagonist seiner Geschichte, Premier Francis Urquhart (in der US-Fernsehserie Präsident Frank Underwood), scheint im Vergleich zu vielen derzeit führenden Politikern im Vereinigten Königreich wie ein nüchterner und respektabler politischer Akteur.

Realität übertrifft Fiktion

Es stellt sich also nun die Frage, ob Johnson über einen Plan – oder zumindest einen Kompass – verfügt, um durch das von ihm selbst mit verursachte Chaos zu navigieren. Eine diesbezügliche Bewertung ist abhängig davon, wo man selbst steht und wie man über Unsicherheit nachzudenken gewohnt ist. Jene Rationalisten, deren Geschäft es ist, Risiken einzuschätzen, scheinen zu glauben, dass Johnson einen Plan hat. Nachdem er seine Gegner erschöpft und das Land in Turbulenzen gestürzt hat, werde er in letzter Minute einen Ausfallschritt in die Mitte tun und ein Bündnis aus erleichterten Tories und Labour-Mitgliedern hinter einer leicht abgewandelten Version des dreimal abgelehnten Austrittsvertrags von Ex-Premierministerin Theresa May sammeln.

In diesem Szenario könnte Johnson einen Teil seines rechten Flügels verlieren, aber er würde womöglich eine ausreichende Zahl von Labour-Abgeordneten und Tory-Rebellen hinter sich versammeln. Alle wären erleichtert, einen plötzlichen "harten Brexit" zu vermeiden. Johnsons zentrale Herausforderung besteht dabei darin, eine gesichtswahrende Lösung zur Umgehung des irischen Backstops zu finden, und er scheint bereit, einen gemeinsamen irischen Markt zumindest für landwirtschaftliche Produkte in Betracht zu ziehen, solange die vereinbarte Nomenklatur es vermeidet, zuzugeben, dass Nordirland damit faktisch im EU-Binnenmarkt verbleibt.

Elefant im Porzellanladen

Die Abgeordneten und die gebildete linksliberale Mittelschicht jedoch denken anders. Hier sehen die meisten Johnson nicht als jemanden mit einem Plan, sondern als tollpatschigen Elefanten im Porzellanladen von Westminster. Indem er sich selbst der Möglichkeiten zu einem Kompromiss beraubt und die Anweisungen des Parlaments ignoriert habe, steuere Johnson mit rasendem Tempo entweder auf einen No-Deal-Brexit oder auf den Sturz seiner Regierung zu. Sein einziges Rettungsboot – so er es denn erreichen kann – wären Neuwahlen, die er als Kampf zwischen Volk und Parlament zu stilisieren versuchen könnte.

Johnson selbst hat höchstwahrscheinlich keine Vorstellung davon, wie all dies enden wird. Nachdem er anfangs großmäulig daherkam, haben ihm seine Gegner inzwischen das Heft des Handelns aus der Hand genommen. Sein Consigliere, Dominic Cummings, ist selbst zur Nachricht geworden, und die Medien weisen ihm hämisch die Rolle des Rasputin am Hofe Johnsons zu. Und erneut übertrifft die Realität die Fiktion: Der wahre Cummings erweist sich als noch dämonischer als sein von Benedict Cumberbatch in "Brexit: The Uncivil War" verkörpertes fiktionales Gegenstück.

Risikopolitik auf allen Seiten

Finanzwelt und politische Bürokratie glauben an eine rationale Entscheidungsfindung, weil sie selbst so agieren. Die Politiker jedoch neigen – derzeit mehr denn je – dazu, sich auf die Macht der Gefühle und des Instinkts zu stützen. Falls Johnson keinen Plan hat, so steht er damit durchaus nicht allein. Labour hat unter allen möglichen Verrenkungen versprochen, einen besseren Austrittsvertrag auszuhandeln, obwohl ihre besten Führungsmitglieder im Falle eines weiteren Referendums gegen genau jenen Vertrag (und für einen Verbleib in der EU) werben würden. Vernunft ist in Westminster derzeit nicht gefragt.

Doch egal, ob Plan oder nicht: Die auf allen Seiten verfolgte Risikopolitik könnte eine Einigung letztlich erleichtern. Wie erschöpfte Preisboxer könnten sich die einander befehdenden Gruppierungen letztlich umarmen, einfach nur, um sich auf den Füßen halten. Freilich würde dies mit Sicherheit zu einem furchtbaren Austrittsvertrag führen. Dieser müsste dann im EU-Rat am 17. 10. zusammengeschustert werden; die dort vertretenen europäischen Staats- und Regierungschefs jedoch sind über den gesamten Prozess zunehmend frustriert. Zudem hat Johnson das Beamtenteam, das die früheren Verhandlungen leitete, bereits aufgelöst. Jede neue Einigung wird also Mays alten Vertrag mit ein paar bunten Schleifchen umfassen – und die wahren Probleme weiter vor sich herschieben. Statt die Brexit-Debatte zu beenden, wird die Show noch jahrelang so weitergehen.

Placebo, kein Heilmittel

Angesichts des Wahns, in den sich das Land hineingesteigert hat, sind rationale Zukunftsentscheidungen inzwischen so gut wie unmöglich. Selbst wenn die Rationalisten recht haben sollten und es einen neuen Deal gibt, wird das nicht aus rationalen Gründen passieren. Das Brexit-Virus hält die britische Politik noch immer auf Gedeih und Verderb in seinem tödlichen Griff. Ein neuer Vertrag wäre ein Placebo und kein Heilmittel. (Mark Malloch-Brown, Übersetzung: Jan Neumann, Copyright: Project Syndicate, 20.9.2019)