Kunstwerke müssen nicht auf die Toilette. Sie kennen keine banalen menschlichen Bedürfnisse. Kim Kardashian, Werbe-Ikone und amtierende Königin des Internets, weiß, dass man für ein perfektes Foto schier Übermenschliches leisten muss.

Diesen Mai kam sie zur Met-Gala in einem hautengen Kleid voller Regentropfen, das wirkte, als wäre sie gerade Meerestiefen entstiegen. Entworfen hatte es die 1980er-Jahre-Design-Diva Thierry Mugler, bekannt für dramatische Roben.

Kardashians XS-Taille war extrem zusammengeschnürt, sie trug ein Spezialkorsett, das es ihr den ganzen Abend lang nicht ermöglichte, sich hinzusetzen. Stehend wurde sie zur Gala transportiert, ein Toilettenbesuch war natürlich auch ausgeschlossen.

Es wäre nicht Kardashian, wenn sie das alles nicht offenherzig ausgeplaudert hätte. Es ist kein Geheimnis, dass die 38-Jährige auch im Alltag ein Fan von Shapewear ist, also strumpfhosenartiger Unterwäsche, die geschickt Problemzonen glättet.

Gerade brachte sie ihre eigene Spanx-Kollektion heraus, die an die Yeezy-Basics ihres Mannes, des größenwahnsinnigen Rappers Kanye West, erinnert. Im Gespräch mit dem Supermodel Cara Delevingne verriet sie ein kleines pikantes Detail: "Ich pinkle immer über die ganze Spanx, es ist ein Desaster! Die Öffnung im Schritt ist nicht groß genug."

In der Korsage vor die Kameras: Die Schauspielerin Elle Fanning trägt ein Kleid von Alexander McQueen.
Foto: AFP / Angela Weiss

Aber auch die Schauspielerin Ellen Fanning sorgte für Schlagzeilen, als sie heuer bei den Filmfestspielen in Cannes in Ohnmacht fiel. Der Grund dafür war ein Vintage-Prada-Kleid aus den 1950er-Jahren, das in der Taille zu eng geschnürt gewesen war.

Renaissance des Mieders

Noch nie wurde so viel über Feminismus in der Mode geredet, Labels wie Dior machen Millionenumsätze mit T-Shirts, auf denen "We Should All Be Feminists" steht. Gleichzeitig erleben wir eine Renaissance des Korsetts und Mieders, also jener Folterinstrumente, mit dem Frauenkörper jahrhundertelang malträtiert wurden.

Im 19. Jahrhundert gingen Frauenrechtlerinnen auf die Barrikaden, um gegen eingeschnürte Körper zu protestieren. Designerinnen wie Coco Chanel halfen Kundinnen, sich mittels Mode zu befreien. Sie entwarfen legere Kleidung, in der man Sport machen und einen Job ausüben konnte, ohne Atemnot zu haben.

Ganz verschwunden ist das Korsett freilich nie, als Fetischkleidung blieb es nicht nur im BDSM-Kontext präsent. Die junge Vivienne Westwood holte sich für ihre gewagten Entwürfe Inspiration in Sexshops. Punk und SM passten vom Provokationspotenzial her bestens zusammen. Das berühmteste Korsett aber geht auf die Rechnung von Jean Paul Gaultier: 1990 schickte er eine selbstbewusste Sängerin namens Madonna in einem Satinkorsett auf ihre "Blonde Ambition"-Tour. Ihr spitzer BH wurde zu einer Ikone der Populärkultur.

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Selbstbestimmt im Korsett: Madonna 1987 während eines Konzerts in Tokio.
Foto: Reuters / Shunsuke Akatsuka

"Mir schwebte eine Frau vor, die mit ihrer Rolle als Sexobjekt spielt und das Machtverhältnis der Geschlechter umkehrt", erklärte Gaultier: "Sie spielt ein Pin-up-Girl, um allen zu demonstrieren, dass sie sehr, sehr große Eier hat. Die Erste, die das begriff, war Madonna, mein Lieblingsmacho." Madonnas Brüste sahen in dem Gaultier-Outfit tatsächlich aus, als ob sie gefährliche Waffen wären: jederzeit bereit zum Schießen.

Madonna verkörperte perfekt eine Pop-Domina, die alles fest im Griff hat. Ein Material Girl, das seinen Freundinnen predigte, sich bloß nicht mit dem Zweitbesten zufriedenzugeben: Make him express how he feels. Nicht nur die muskulösen Oberarme der Sängerin waren ihrer Zeit voraus.

Auch das Label Hellessy setzt auf eingeschnürte Taillen.
Foto: Hellessy

Kritische Stimmen behaupten, das Korsett sei ins Innere des Körpers gewandert. Die Sport- und Body-Shape-Begeisterung der 1980er-Jahre, die nicht zufällig mit der Geburt der Yuppies zusammenfiel, machte den Körper zur Ware. Man präsentierte ihn als Schaufenster der eigenen Leistungsfähigkeit und Disziplin.

Selbstoptimierung wurde zur Grundvoraussetzung für eine steile Karriere: Beleibte Politiker wie Helmut Kohl gehörten der Vergangenheit an. Aber nicht nur die Politikerkörper avancierten zum Spielball neoliberaler Zwänge. Schließlich ist der eigene Body die letzte Bastion, die man vollends beherrschen und formen kann, in einer Welt, die man politisch und wirtschaftlich als zunehmend bedrohlicher empfindet.

Eine Unterkategorie dieses aktuellen Körperwahns ist die Wespentaille, die gerade wieder hoch im Kurs steht. Im Internet finden wahre Wettkämpfe statt, Sportprogramme erklären den steinigen Weg zur Sanduhrfigur.

Leg dich nicht mit mir an

Auch in Sachen tragbares Korsett hat sich einiges verändert. In Zeiten von Madonna waren es die Brüste, die hochgeschnürt und betont wurden. Dass BHs nicht mehr versteckt, sondern als Oberkleidung zur Schau gestellt wurden, sollte Stärke demonstrieren.

Die neue Transparenz wurde kombiniert mit breiten Schultern, die deutlich machten: Leg dich besser nicht mit mir an! Diese feminine Macho-Ästhetik findet sich auch im aktuellen Fashion-Revival der 1980er-Jahre wieder. Die Kollektionen des Rap-Stars Cardi B zeigen ebenso wie die Entwürfe von Louis Vuitton breite Schultern, enge Taillen und freigelegte BHs.

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Wespentaille bei Etro.
Foto: Reuters / Alessandro Garofalo

Trotzdem sind die Brüste nicht mehr so zentral: Wir leben im Zeitalter des Hinterns. Das aktuelle Schönheitsideal legt den Fokus auf einen möglichst großen, runden Arsch, der durch schmale Taillen betont werden soll.

Vorreiterin war Jennifer Lopez in ihrem rückenfreien grünen Versace-Kleid, das sie 2000 bei den Grammys trug. Ab 2010 wurde der Big Butt dann flächendeckend zum neuen Beautytrend. 2014 singt Rap-Star Nicki Minaj in dem Song Anaconda: "Oh my gosh, look at her butt. Fuck the skinny bitches!"

Ohne Betonung der Taille wird der Spanx-Trend wahrscheinlich auch auf die Männer überspringen. Kanye West liebt Fastfood – als seine Figur wieder einmal aus dem Ruder gelaufen war, verordnete ihm seine Gattin Kim Kardashian, dass er Shapewear unter seinen Schlabberpullis anzieht. Immerhin: Mittlerweile müssen beide Geschlechter für ihre Schönheit leiden. (Karin Cerny, RONDO exklusiv, 22.10.2019)