Das berühmteste T-Shirt der Nation – oder eines, das sehr ähnlich aussieht: Heinz-Christian Strache plauderte sich an einem Sommerabend im Jahr 2017 ins politische Out und riss gleich die türkis-blaue Regierung mit. Am 29. September wird daher neu gewählt.

Foto: Lukas Friesenbichler

Man habe ein "Sittenbild gesehen, das uns alle zutiefst verletzt". Den Bürgerinnen und Bürgern, die dieser Fernsehansprache folgten, riet Bundespräsident Alexander Van der Bellen in der ihm eigenen Mischung aus dramatischer Überhöhung und Wiener Wurschtigkeit, "Mut und etwas Zuversicht" zu bewahren. Weil: "Wir kriegen das schon hin."

Am Freitag davor war das Ibiza-Video bekannt geworden, in Windeseile geteilt und auf den Social-Media-Kanälen teils ungläubig bestaunt worden. FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache hatte mit Assistenz seines Kompagnons Johann Gudenus Österreich verkauft und verraten, die Kronen Zeitung und das Wasser gleich mit. Alkohol mag im Spiel gewesen sein, männliches Imponiergehabe, aber bei allen Slapstick-Einlagen, über die man sich amüsieren kann, das war ernst. Strache wirkte gefasst und bei sich. Er wusste, was er da redete.

Depperte, schoarfe Zitate

Es fielen Zitate, die man nachhören kann. Nicht alle erschüttern die Republik, aber sie ergeben ein Ganzes. "Bist du deppert, die ist schoarf." Das sagt ein Politiker, der später Vizekanzler wird. Das Bild, das er von den Medien zeichnet: "Journalisten sind sowieso die größten Huren auf dem Planeten." Strache über politische Mitbewerber und einen Wiener Zeitungsherausgeber: "Schneebrunzer".

Am Samstag ist Strache zurückgetreten, Gudenus auch. Bundeskanzler Sebastian Kurz ließ die Koalition mit der FPÖ platzen, über das Wie und Warum gibt es immer noch recht unterschiedliche Darstellungen. Die angekündigte Entlassung von Innenminister Herbert Kickl führte jedenfalls dazu, dass die anderen freiheitlichen Minister ihre Ämter niederlegten – unter sichtbaren Schmerzen. Das war am Sonntag, den 20. Mai.

Am Dienstag sagt Van der Bellen: "So sind wir nicht, so ist Österreich einfach nicht, aber das müssen wir alle gemeinsam beweisen. Den Politikern wird dabei eine besondere Rolle zukommen."

Ibiza – Wien – Brüssel? Lieber doch nicht.

Diesen Beweis ist Österreich schuldig geblieben. Bei der EU-Wahl eine Woche später fährt die ÖVP einen Triumph ein. Die SPÖ kann den Skandal nicht verwerten. Minus 0,2 Prozentpunkte. Die FPÖ verliert nur wenig. Heinz-Christian Strache, der auf dem letzten Listenplatz kandidiert hatte, wird mit 45.000 Vorzugsstimmen ins EU-Parlament katapultiert. Er wird das Mandat nach langem Hin und Her schließlich nicht annehmen.

Österreich ist offenbar so. Dass einer, der dann Vizekanzler ist, auf Ibiza einer vermeintlichen Oligarchennichte das Land verscherbeln möchte, tut Österreich mit einem Achselzucken ab.

Strache hat eine Antwort auf Van der Bellen. Er hat sich das Video noch einmal angesehen. "Wenn ich diese Bilder sehe, so weiß ich: Das bin nicht ich." Die FPÖ versucht, es damit abzutun: "a b’soffene G’schicht". Diese Lesart scheint sich durchzusetzen.

Brusttief im Wahlkampf

Nach der für ihn erfolgreichen EU-Wahl wird Kurz gestürzt. Er ist nicht mehr Regierung, es gibt in dieser Form auch keine Opposition mehr. Alle Parteien sind auf einer Ebene, das ist ein interessanter Schwebezustand, aber keine Lösung. Die Politiker, denen Van der Bellen eine besondere Rolle zugetraut und zugemutet hatte, sind allesamt knietief bis brusttief im Wahlkampf. Das Land wird von Nichtpolitikern regiert. Eh nett. Aber nicht ernstzunehmend. Eine besondere Rolle, die das Vertrauen wieder aufbauen könnte, nimmt dabei niemand ein. Eine Höchstrichterin, Bürokraten und Beamte bilden das Kabinett.

Es ist eine Übergangsregierung, obwohl die Verfassung, die Bundespräsident Van der Bellen in den turbulenten Tagen voller zärtlicher Zuneigung so gepriesen hatte, diesen Begriff gar nicht kennt. Das Land hätte Anrecht auf eine Regierung, die allen Ansprüchen genügt, die nicht nur verwaltet, sondern auch gestaltet. Und stellen wir uns kurz vor, dass Sebastian Kurz als Kanzler eine Medienpolitik betriebe wie Brigitte Bierlein, die überall gelobt wird und höchst angesehen ist: keine inhaltlichen Interviews mehr, jene Medien, die nicht willfährig sind und als nicht berechenbar gelten, auf Distanz gehalten, keine Informationen mehr. Tendenzen dazu gibt es, jetzt könnte Kurz auch noch die Pressefoyers nach dem Ministerrat abschaffen, in den alle Medien des Landes die Gelegenheiten hatten, direkt Fragen an die Regierungsmitglieder zu richten. Bierlein hat das getan.

Jo, jo? Na, na.

Kurz steht derweil im Altersheim und fragt jovial in die Runde: "Und habts schon mittaggegessen, jo, jo?" Diese verlegene Herablassung steht prototypisch für die Unsicherheit jenes Mannes, der Kanzler war und voraussichtlich wieder wird. Er weiß mit sich und seinen Wählern nicht immer etwas anzufangen. An sich ist Kurz mit genügend Selbstvertrauen ausgestattet, und auch seine Entourage weiß üblicherweise alles besser als der Rest der Welt. Aber da hat es doch ein paar Dämpfer gesetzt. Eröffnet wurde der Wahlkampf mit der Abwahl. Das nahm Kurz dem Parlament so übel, dass er auf sein Mandat verzichtete. Er wollte jenen, die ihm diese Schmach angetan hatten, nicht mehr gegenübertreten.

Nachdem er aus dem Parlament ausgezogen war, fuhr er auf den Grünen Berg zur Politischen Akademie, wohin die Partei auch ein paar Anhänger bringen ließ, und verkündete ihnen: "Heute hat das Parlament entschieden, aber am Ende entscheidet immer das Volk." Dann startete er seine Wiederauferstehungstour.

Gestückelte Spenden

Die holperte von Beginn weg. Das Festplattenschreddern beim Reisswolf, der seltsame Auftritt beim Prediger in der Stadthalle, die gestückelten Spenden der Milliardärin, der von Jörg Haider abgekupferte Wahlkampfslogan, die kreative Buchführung, das Aussperren von Medien, die finanziell desolate Situation der Partei. Kurz lebt als Politiker offenbar auf Pump.

In den Reaktionen war vieles dabei, was Kurz und seinem Team nicht jene Souveränität auswies, die sie eigentlich haben müssten, aufgrund der Erfahrung und der Umfragen, allem zum Trotz. Da flatterten gehörig die Nerven.

Gott, Linda und Frau Hörbiger

In der Lobhudelei gab es freilich kein Maßhalten. Die sechsjährige Linda, die Kurz einen herzzerreißenden Brief überreichte: "Einfach traurig und wütend" sei sie auf alle gewesen, als er im Parlament abgewählt wurde. Auf alle war sie böse, aber "überhaupt nicht auf dich". Die 80-jährige Christiane Hörbiger, die auf ihrer Terrasse sitzt: "Wir wären so froh und stolz und glücklich, wenn Sie unser kleines, geliebtes Österreich, mein Heimatland, wieder in Ihre Hände nehmen würden." Der Prediger in der Stadthalle: "God we thank you so much for this man, for the wisdom you have given him." Das Buch Sebastian Kurz, das sich offizielle Biografie nennen darf – eine distanzlose Anhimmelung, die Kurz eigentlich peinlich sein müsste.

Freund und Feind statt Wir

Der Wahlkampf hat gezeigt, dass Kurz und sein Team bei weitem nicht alles unter Kontrolle haben, und dass die Message-Control nichts bewirkt, wenn es zur Mission nicht auch das Amt gibt, das die Macht verleiht. Wenn Kurz diese Macht wieder in Händen hat, egal in welcher Konstellation, werden wir sehen, wie wir sind, als Kanzler, als Koalitionspartner, als Opposition, als Freund und Feind, als Medien mittendrin. Die Erfahrung lässt befürchten, dass es kein gemeinsames Wir geben wird, sondern ein Wir, das auch ein Ihr bedingt, und dass sich aus dieser Polarisierung heraus bestens Politik betreiben lässt. So sind wir. (Michael Völker, 21.9.2019)