Nicht immer sind die Geschlechtsorgane so eindeutig ausgeprägt.

Foto: istock

Manchmal ist bei der Geburt nicht eindeutig erkennbar, ob das Kind ein Mädchen oder ein Bub ist. In anderen Fällen zeigt sich dieser Umstand erst in der Pubertät, etwa wenn ein Bub eine Brust entwickelt oder ein Mädchen keine Menstruation bekommt.

Früher wurde ehestmöglich interveniert, heute hat in der Medizin ein Umdenken stattgefunden und irreversible Eingriffe werden möglichst vermieden, hieß es vergangene Woche von Medizinern anlässlich des europäischen Kongresses für pädiatrische Endokrinologie in Wien.

Bei einigen Varianten der Geschlechtsentwicklung ist es eindeutig, welchem Geschlecht das Kind zuzuordnen ist – so bei einem Buben, dessen Harnröhre nicht an der Eichelspitze, sondern an der Unterseite des Penis mündet. Davon ist einer von 300 Buben betroffen.

Psychologische Betreuung

Manchmal aber ist weder der Begriff "männlich" noch der Begriff "weiblich" zuzuordnen. Diese tiefgreifenden Varianten sind, wie Stefan Riedl, pädiatrischer Endokrinologe im St. Anna Kinderspital, betont, mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 1: 4.000 sehr selten.

"Hier wurde früher häufig sehr früh irreversibel eingegriffen und viel totgeschwiegen," erklärt Riedl. "Heute werden die Kinder in ihrer Individualität gesehen, die Familien auch psychologisch betreut und Selbsthilfegruppen in das Management mit einbezogen."

Nur gewisse Fälle werden früh behandelt – neben einer medizinisch notwendigen Hormonbehandlung gehören dazu etwa Harnröhrenverlegungen oder die Entfernung funktionsloser Keimdrüsen, die sich zu einem Tumor entwickeln können.

"Bei allen anderen Fällen lässt man sich – basierend auf dem Recht der körperlichen Unversehrtheit – möglichst Zeit bis zur Pubertät oder später", erklärt Riedl. Ist sich der angehende Teenager beim Einsetzen der Pubertät seiner Geschlechtsidentität noch nicht sicher, besteht zudem durch die Gabe von Hormonblockern die Möglichkeit, die Pubertät hinauszuzögern.

Viele Ursachen

Die Ursachen für die Varianten der Geschlechtsentwicklung sind so vielfältig, wie die unterschiedlichen Ausprägungsformen selbst und können chromosomale, genetische, physiologische, umweltbedingte oder endokrinologische, also hormonbedingte, Ursachen haben.

So kann etwa ein Cortisolmangel der Nebenniere indirekt dazu führen, dass das äußere Genital eines Mädchens bei der Geburt vermännlicht aussieht. Hier ist eine Hormonersatztherapie ab Diagnose in der ersten Lebenswoche lebenswichtig und die Geschlechtsvariante ein Symptom, das durch ein Ungleichgewicht des Hormons Testosteron dazu führt, dass die Klitoris vergrößert und penisartig aussehen kann.

Ein Mangel des gleichen Hormons bei Buben bewirkt, dass das äußere Genital nicht typisch männlich ausgeprägt ist. "Bei einigen Varianten der Geschlechtsentwicklung wird die Identität nicht bestritten und auch ein Kinderwunsch kann im Erwachsenenalter durchaus erfüllt werden," erklärt Riedl.

Angst nehmen

Häufiger von Unfruchtbarkeit betroffen sind hingegen Menschen mit einer Variante der Geschlechterentwicklung, die genetische Ursachen hat. Aber selbst da kann, durch die Entnahme von funktionsfähigen Spermien aus den Hoden während der Pubertät, ein Potenzial für eine spätere Fruchtbarkeit gegeben sein.

Insgesamt stehe die Gesellschaft noch vor der Aufgabe, die Varianten der Geschlechterentwicklung zu akzeptieren. Medizinern sei es ein Anliegen, "die Angst vor den seltenen Phänomenen zu nehmen, ebenso wie die Toleranz gegenüber statistischen Abweichungen von der 'Norm' zu signalisieren", so Gabriele Häusler, Leiterin der Ambulanz für pädiatrische Endokrinologie und Osteologie der Med-Uni Wien. (red, 21.9.2019)