Anne Lenk möchte ihre Spuren als Regisseurin lieber verwischen.

Kim Keibel

Gießen! Gießen! haben alle Theaterleute Anfang der Nullerjahre geschrien. Und sie meinten damit nicht: Ran an die Spritzeimer, sondern: Auf in die gleichnamige mittelhessische Universitätsstadt! Das dortige Institut für Angewandte Theaterwissenschaft galt (und gilt) als die Kaderschmiede neuer, erweiterter Theaterkunst und wurde zum Inbegriff der Postdramatik. Das Institut, bereits 1982 gegründet, hat Theaterpersönlichkeiten wie René Pollesch, Rimini Protokoll oder She She Pop hervorgebracht. Auch Anne Lenk war in Gießen. Doch die heute 41-jährige Regisseurin machte eine Kehrtwende und schloss ihr Studium an der traditionsreichen Otto Falckenberg Schule in München ab.

Deutsches Theater Berlin

Lenk gehört damit zu den wenigen Theaterschaffenden, die Avantgarde und Klassik gleichermaßen in sich vereinen, ihr sind Videoschnitttechnik, aber auch herkömmliches Rollenspiel vertraut. Wenn Lenk also das klassische Regiehandwerk praktiziert, hat sie die theoretische Basis dazu im Hinterstübchen abrufbar. Der wissenschaftliche Blick auf Texte ist ihr geblieben. Aber eben anders als bei Pollesch, der in Gießen ihr Lehrer war. Lenk arbeitet sich am Fremden ab, an Geschichten und Sprachen von anderen.

Bitte keine Ironie mehr

Dass sich eine Nachwuchskünstlerin damals gegen die heiligen Weihen von Gießen entschieden hat und für einen scheinbar konventionelleren Weg, ist mehr als bemerkenswert. Heute, da Ironie abgewählt und Schauspielerindividualität wieder gefragt sind, profitiert Anne Lenk von ihrer steilen Kurve von Gießen nach München. Ihre Arbeiten werden hoch gehandelt; sie inszeniert nach Einstiegsjahren in Augsburg, Bochum, Aachen an den ersten Häusern der Theatermetropolen Hamburg, Berlin und München. Martin Kušej, an dessen Residenztheater sie mehrfach engagiert war (Das goldene Vlies, Das Schlangenei, Endspiel), öffnet ihr nun erstmals die Tore des Burgtheaters. Mit Sally Potters Tragikomödie The Party, die 2017 als Film herauskam, gibt sie am Samstag ihr Debüt in Wien.

Deutsches Theater Berlin

Schauspielerführung ist Anne Lenks Ding. Die Idee dem Ensemble so gut zu kommunizieren, dass dieses am Ende wie von selbst agiert, das ist das Ziel. Lenk drückt es so aus: "Ich möchte meine Spuren als Regisseurin verwischen". In einem Zeitalter der Ich-Glorifizierung und der wettbewerbsgesteuerten Ich-Vermarktung ist das ein Satz, der aufhorchen lässt. Und: "Ich mag keinen Personenkult". Das ist eine am Theater wahrlich seltene Stimme, ging es doch im deutschsprachigen Theater in den letzten Jahrzehnten immer um das Entwickeln wiedererkennbarer persönlicher Handschriften. Lenk aber pfeift auf die Marken-Kreation und bahnt sich von jedem Dramentext ausgehend einen neuen, eigenen Inszenierungsweg.

Mit Erfolg. Ihrem Menschenfeind am Deutschen Theater Berlin attestierte nachtkritik.de jüngst gar "altmeisterliche Kühle". Da steigt eine Célimène (Franziska Machens) durch die Lamellenwand, wie es sie noch nicht gab: eine lässige Witwe, die um ihre Unnahbarkeit weiß und mit ihrer dagegensteuernden Lockerheit alle aus den Angeln hebt. Schauspielerverantwortung findet Anne Lenk eben spannend. "Wenn ich als Regisseurin Verantwortung an die Schauspieler abgebe, dann weiß ich, dass ich etwas zurückbekomme".

Theater ist durch nichts zu ersetzen

Diese Art von Regie, die sich nicht aufplustert, sondern lieber hinter das Werk zurücktritt, bleibt trotzdem immer noch eine Regie von Anne Lenk. Da ist die Theatermacherin ganz entspannt. Ihre Perspektive und Welterfahrung fließen unweigerlich in die Deutung eines Stückes hinein. Besonders dann, wenn es darum geht, die Räume zwischen Gesagtem und Gemeintem auszuforschen. Wenn eine Figur "Ich liebe dich" sagt, kann das ja vieles bedeuten, so Lenk. Vielleicht will die ja nur ablenken? Schon als Schülerin der Waldorfschule Offenburg hat Anne Lenk gegen das Ansinnen ihrer Lehrer aninterpretiert. Die eigene Lesart verteidigen, das hat sie früh gelernt.

Seit letzter Spielzeit ist Anne Lenk Hausregisseurin am Staatstheater Nürnberg. Das System Stadttheater verteidigt sie mit Verve, und das bedeutet bei Lenk: in der ganz präzisen Anordnung klarer Argumente. Der Betrieb mit angestellten Schauspielerinnen und Schauspielern ermögliche eine ideale Arbeitsweise: maximale Freiheit innerhalb abgemachter Strukturen. Damit kann Lenk gut umgehen. Die Zeiten sind vorbei, als Regeln im Theaterbetrieb generell als unsexy galten (es sei denn, sie gingen von Regietyrannen aus). Lenk gehört zu einer Generation, die sich dadurch nicht eingeschränkt sieht, im Gegenteil: Jeder einzelne profitiere von zuverlässigen Arbeitsbedingungen.

Lenk zählt aber auch zu den Theatermachern, die der Ironie am Theater Baba gesagt haben. Theater ist längst weiter, sagt sie. "Theater ist eine uralte, analoge Kunstform, und ich bin sicher, sie ist durch nichts zu ersetzen." Auf diese altmodische Qualität richtet sie ihren Fokus. (Margarete Affenzeller, 21.9.2019)