Sieben Wochen ist es her, dass Indien den Sonderstatus der Unruheprovinz Jammu und Kaschmir gestrichen hat. Seitdem herrscht in Kaschmir Ausnahmezustand. Bis heute funktionieren in weiten Teilen weder Handys noch das Internet. Nur das Festnetz geht wieder, die Ausgangssperren sind laut Regierung aufgehoben. Bhuvan Bagga gehört zu den wenigen Journalisten, die vergangene Woche in der regionalen Hauptstadt Srinagar waren. "In einzelnen Teilen sieht man wieder Verkehr und Menschen", erzählt er. "Andere Teile sind aber vollkommen verlassen."

Die Schulen in der Region sind wieder offen, doch viele Eltern behalten ihre Kinder zur Sicherheit zu Hause. "In der Bevölkerung gibt es viel Wut, Nervosität und Unsicherheit", sagt Bagga. Die Regierung habe den "Shutdown" initiiert, nun komme es auf die Menschen an: "Jeder wartet und beobachtet, ob sich einzelne trauen, ihr Geschäft wieder zu öffnen. Je nach Reaktion folgen andere."

Druck von Terrorgruppen

Vor zwei Wochen wurde die Familie eines einflussreichen Apfelbauern in Shopian angegriffen, weil er seine Geschäfte wieder aufnehmen wollte. Es sind lokale Terrorgruppen, die die Leute unter Druck setzen, ihrem Regierungsboykott zu folgen. Delhi will gegensteuern und wird die Äpfel der Region dieses Jahr aufkaufen. Auch für Medikamente soll gesorgt sein. Allerdings kommen Menschen laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wegen der Blockade nicht immer rasch genug ins Spital.

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Die politische Rhetorik um Kaschmir verschärft sich zunehmend.
Foto: Reuters/Mascarenhas

Auch der Tourismus ist zum Erliegen gekommen. Am 2. August mussten alle Touristen Kaschmir wegen einer Terrorwarnung verlassen. Zeitgleich schickte Delhi tausende Sicherheitskräfte in die Region. Als Kaschmir kurz darauf überraschend die Sonderrechte gestrichen wurden, kamen hunderte Lokalpolitiker und Aktivisten unter Hausarrest, mittlerweile sollen es Tausende sein. Es sei eine Präventivmaßnahme, erklärt die Regierung. Wann die Menschen wieder freikommen, ist unklar.

"Wahrscheinlich sind die Maßnahmen etwas überzogen", sagt Sushant Sareen vom regierungsnahen Thinktank Observer Research Foundation. Aber: "Die Politiker sind ja nicht im Kerker. Die meisten sind in ihren eigenen Häusern oder wurden in Fünfsternehotels untergebracht." Aufgrund ihres "politischen Drangs" könnten sie sonst Unruhe stiften. "Das Letzte, was die Regierung will, sind von Lokalpolitikern orchestrierte Störaktionen." 2016 forderten ähnliche Eskalationen dutzende Todesopfer. Für die Regierung sei es eine Wahl zwischen zwei Schlagzeilen gewesen, meint Journalist Bagga: entweder "Kompletter Shutdown" oder "Viele Todesopfer".

Indiens Außenminister Subrahmanyam Jaishankar sieht in dem umstrittenen Schritt wiederum den Beginn einer "mutigeren" Kaschmir-Politik. Seit 30 Jahren würden dort von Pakistan unterstützte Terroristen Anschläge verüben. "Pakistan produziert Terroristen wie Deutschland Autos", sagt er. Etwa 300 seien in Kaschmir aktiv, beziffert Indiens Ex-Geheimdienstchef Shri Asif Ibrahim das Problem – für ihn ein "bewältigbares" Ausmaß. In den 90ern seien es noch 7.000 gewesen.

Gefährliche Rhetorik

Pakistan streitet den Vorwurf ab. Vielmehr beansprucht es, so wie Indien, ganz Kaschmir. Premier Imran Khan drohte vor einigen Tagen im Fall einer Eskalation mit Atomwaffen. Der Außenminister Indiens, ebenfalls eine Atommacht, bezeichnet das auf Nachfrage des STANDARD als "psychologische Angstmache" und verweist auf Indiens "no first use"-Politik. Vor einigen Wochen brachte allerdings der indische Verteidigungsminister Rajnath Singh ins Spiel, ebenjene Politik bei Bedarf zu ändern. Unionsminister Jitendra Singh kündigte an, der nächste Schritt sei, ganz Kaschmir zu "befreien".

Dass die USA Indien weitgehend freie Hand lassen, zeigt sich am Sonntag: Da tritt Premier Narendra Modi in Houston, Texas, vor 50.000 Auslandsindern auf – gemeinsam mit Präsident Donald Trump. Gerade rechtzeitig vor der am Montag beginnenden UN-Generalversammlung, wo Pakistan das Thema Kaschmir ansprechen will. Für die Menschen in Kaschmir heißt es unterdessen warten – auf Handyempfang, auf Internet, auf Informationen. (Anna Sawerthal aus Delhi, 21.9.2019)