Fast ist man geneigt zu schmunzeln, wenn man sich die blühende Fantasie der Berliner Landrichter im Fall Renate Künasts zu Gemüte führt. Aber nur ganz kurz. Die deutsche Grünen-Politikerin hatte geklagt, weil sie auf Facebook von Unbekannten in wüstester Manier beschimpft worden war. Nun wurde der Beschluss des Gerichts öffentlich. Und er offenbart ein Sittenbild: Beleidigungen, Verleumdungen, Gewaltfantasien – als Politikerin müsse Künast verbale Tiefschläge eben "hinnehmen", urteilten die Richter. Und setzten auf die sexistischen Demütigungen, die Künast erleiden musste, noch eine große Portion Hohn drauf.

Die deutsche Grünen-Politikerin Renate Künast.
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Schließlich, so ist im Beschluss zu lesen, lasse sich nicht zweifelsfrei eruieren, ob man aus dem verhaspelten Fluch "Ferck du Drecksau" eines Users "Verrecke", eine Todesdrohung gegen Künast also, oder aber das niedliche "Ferkel" herausliest. Und auch andere sexistische Beflegelungen, "Drecks Fotze" etwa, seien durch die Meinungsfreiheit gedeckt. Schließlich, so die Richter, habe sich auch der Anlass der Facebook-Debatte, eine Aussage Künasts über die Position der deutschen Grünen zu Pädophilie in den 80er-Jahren, die von einem rechten Netzaktivisten verzerrt dargestellt wurde, im "sexuellen Bereich" befunden. Und überhaupt müsse sich eine Politikerin eben auch überzogene Kritik gefallen lassen, wenn sie sich mit derlei heiklen Themen befasst.

Trugschluss

Man muss weder die Grünen gut finden noch Renate Künast – und schon gar nicht die Debatte über Sex mit Kindern verfolgt haben, um darin ein fatales Signal zu orten. Künast hat recht, wenn sie derlei sprachliche Gewalt als Gefahr für unsere Demokratie betrachtet. Die Exzesse haben schließlich längst nicht nur vergleichsweise gut geschützte Prominente wie sie im Visier. Wenn Politikerinnen ganz unverhohlen Vergewaltigung angedroht wird, wenn jene, die sich um Flüchtlinge bemühen, verhöhnt werden, und wenn Journalisten, die gegen Rassismus anschreiben, der Tod gewünscht wird, gilt die Einschüchterung der freien Gesellschaft als ganzer.

Das sei eben der Preis für Prestige und Salär, mit dem der vermeintliche Platz an der Sonne einhergeht, argumentieren dann manche. Ein Trugschluss: So gut dotiert ist kein politisches Amt, als dass die Rechnung für engagierte Menschen dann noch aufgeht. Ehrenamtliche Helfer überlegen es sich ohnehin zweimal, ob sie mit Gesicht und Namen öffentlich als "Gutmenschen" für ihre Sache einstehen wollen. Und natürlich trifft es nicht nur Frauen, nicht nur Linke, nicht nur Fürsprecher einer offenen Gesellschaft. Auch die Gegenseite bedient sich, wenn es ins Weltbild passt, gerne des Bihänders. Und doch fällt auf, dass sich der rechte Hass besonders gerne gegen Frauen richtet, die nach reaktionärer Ansicht aus der Rolle fallen, laut sind, unbequem. Wenn der Staat, so wie jetzt in Berlin geschehen, die Geschmähten und Bedrohten auch noch im Stich lässt, wird sich bald niemand mehr finden, der sich der Res publica widmet. Frauen schon gar nicht. (Florian Niederndorfer, 20.9.2019)