Ein "Ausbruch einer Verfassungskrise vulkanischen Ausmaßes" steht nach Ansicht von Juristen Großbritannien ins Haus, sollte der Londoner Supreme Court zu Beginn der Woche die Suspendierung des Parlaments durch Premierminister Boris Johnson für illegal erklären. Die Tageszeitung Guardian zitierte am Sonntag einen "hochrangigen Juristen", der davon ausgeht, dass die Regierung die Verhandlung verlieren dürfte.

Drei Tage lang hatten sich die elf Richter des britischen Höchstgerichtes in der Vorwoche dem Für und Wider der sogenannten Prorogation von Unter- und Oberhaus gewidmet. Viel Zeit wurde dabei den möglichen Rechtsmitteln eingeräumt, derer sich die Regierung im Falle einer Entscheidung gegen sie bemächtigen könnte – für Experten ein Indiz, wohin das Pendel ausschlagen dürfte. Sollte der Rat zu der Auffassung kommen, Johnson habe die Königin falsch beraten, wäre der von ihm betriebene Zwangsurlaub für die Parlamentarier illegal. Sollten sie befinden, Johnson habe damit die Gesetzgebung blockiert, ebenso. Der Premierminister müsste die MPs also wieder tagen lassen – weit früher, als von ihm beabsichtigt. Eine Entscheidung wird am Dienstag um 11.30 MEZ bekanntgegeben.

Zweite Prorogation möglich

Die Verhandlung ist anberaumt worden, nachdem ein schottisches Gericht die Prorogation für illegal erklärt hatte. Außenminister Dominic Raab kündigte am Sonntag an, die Regierung werde die Entscheidung des Gerichts auf jeden Fall respektieren. Ob sie, wie angenommen wird, das Parlament kurzerhand ein zweites Mal in Zwangspause schicken würde, ließ Raab, selbst Brexit-Hardliner, offen.

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Steve Bray, der sonst vor dem Londoner Parlament gegen den Brexit protestiert, ist Labour auf den Brightoner Strand gefolgt.
Foto: REUTERS/Peter Nicholls

Die oppositionelle Labour-Partei hingegen hat bei ihrem Parteitag in Brighton am Sonntag einmal mehr die Entscheidung über ihren zukünftigen Brexit-Kurs vertagt. Während dutzende Ortsverbände die Führung zu einer klaren Pro-EU-Position drängen, erklärte Parteichef Jeremy Corbyn der BBC, ein von ihm ausgehandelter Deal könne für Großbritannien letztlich besser sein als die EU-Mitgliedschaft. Für Corbyn stehe fest, dass zwar "eine große Mehrheit der Labour-Sympathisanten Remain unterstützt, eine signifikante Minderheit aber anders abgestimmt hat". Wie Labour jetzt zum Brexit steht, will Corbyn aber erst bei einem Sonderparteitag festlegen – wann dieser stattfinden soll, ließ er offen.

Labour-Chef Corbyn kam ein wichtiger Berater abhanden.
Foto: DANIEL LEAL-OLIVAS / AFP

Dass sich Labour zunehmend schwertut, den Spagat zwischen Remain-Befürwortern und Brexit-Unterstützern in den eigenen Reihen zu halten, wurde am Wochenende auch durch den Rücktritt des Corbyn-Beraters Andrew Fisher deutlich. Fisher, der unter anderem für den überraschenden Wahlerfolg Labours 2017 verantwortlich war, warf dem Vernehmen nach hin, weil ihn der Zickzackkurs der Partei in puncto Brexit mehr und mehr frustriert habe. Wenn Labour es weiterhin Remainern und Brexiteers gleichermaßen recht machen will, habe die Partei bei Wahlen keine Chance, prognostizierte Fisher dem Guardian zufolge. Und tatsächlich sieht eine neue Umfrage einen 15-Prozent-Vorsprung von Johnsons Konservativen (37 Prozent) vor Labour (22 Prozent).

Am Montag will Boris Johnson EU-Spitzen am Rande der Uno-Generalversammlung in New York treffen. Gut möglich, dass die "vulkanische" Krise dann schon Thema sein wird. (Florian Niederndorfer, 22.9.2019)