Verschnürte lebende Wollhaarflusskrebse werden überall als Delikatesse der Saison auf Chinas Märkten angeboten. In den Highspeed-Zügen dürfen sie im Gepäck nur mit, wenn sie schon tot sind.

Foto: Erling

Ich fahre liebend gerne mit dem Gaotie, Chinas Hochgeschwindigkeitszug. Er ist superschnell, pünktlich, zuverlässig und bequem. Auch mein rotes Taschenmesser, das für mich aufgrund von Korkenzieher und Schere unverzichtbar ist, fühlte sich auf all meinen Bahnreisen im Kulturbeutel gut aufgehoben. Bis zum vergangenen Wochenende. Nach Durchleuchtung meines Koffers rief mich ein junger Bahnbeamter streng aus der Reihe: "Sie führen ein Messer mit sich!"

Zwei Tage zuvor war ich mit dem gleichen Gaotie und demselben Messer von Peking aus in das zentralchinesische Wuhan gereist. Auf dem Rückweg in die Hauptstadt, wo die Volksrepublik zum Nationaltag am 1. Oktober 70 Jahre ihrer Gründung mit einer gigantischen Militärparade und Massenaufmärschen feiern lässt, fiel mein kleines Klappmesser als große Bedrohung auf. "Das muss hierbleiben", verlangte der Kontrolleur. Er ließ sich von meinem Einspruch nicht beirren, dass das gute Schweizer Stück mich schon auf dutzenden Highspeed-Fahrten begleitet und unbeanstandet alle Gepäckkontrollen überstanden habe.

"Sie haben lebende Tiere im Koffer!"

Doch Pekings Großereignis wirft seine Schatten voraus. Maximale Sicherheit wird seit Wochen großgeschrieben – so wie auch das Kleingedruckte in den Regularien für Gaotie-Nutzer. Sie ächten nicht nur den Transport des populären Vielzweckmessers. Hinter mir wurde eine 50-jährige Frau herausgewunken. "Sie haben lebende Tiere im Koffer!", herrschte sie der Beamte an.

Während ich einen Schritt zurücktrat, weil ich an Giftschlangen dachte, holte sie sechs in Bast verschnürte, handtellergroße, leicht zuckende Flusskrebse hervor. Für die immer im September beliebte Delikatesse gibt es eine eigene Gaotie-Beförderungsbestimmung von 2015. Sie verbietet es, die Krebse lebend zu befördern. Ohne Begründung.

Tötungsauftrag

Sie dürfe ihr halbes Dutzend Schalentiere mitnehmen, müsse sie aber auf der Stelle töten, sagte der Beamte. Die Frau war nun den Tränen nahe. Sie wisse nicht, wie man das macht, außer sie zu kochen. Ich überlegte, ob ich ihr mein Taschenmesser anbieten sollte. Aber es war schon beschlagnahmt. "Ich darf meinen Zug nicht versäumen", rauschte sie schließlich wütend ab und ließ ihre Leckerbissen auf dem Tisch zurück.

Für mich hatte der Beamte einen Rat, wie ich mein konfisziertes Messer zurückbekommen könnte. Schließlich lebe China im Rausch des digitalen Zeitalter, in dem alles und jedes online geordert und sofort zugestellt werde. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Notizzettel mit mehreren Handynummern von Paketboten (kuaidi) sowie dem Zugang zu deren Wechat-Accounts (Chinas Whatsapp).

Ich sollte einen von ihnen kontaktieren und ihn mit meiner Adresse und Handynummer beauftragen, mir das amtlich weggenommene Gut ins mehr als 1.000 Kilometer entfernte Peking nachzuliefern. Der Beamte klebte einen Zettel mit Registriernummer auf mein Messer, fotografierte es ebenso wie die Seite meines Reisepasses und schickte sie hinterher. Ich könne jetzt gehen. Der Bote werde sich melden.

Zuerst die Parade, dann das Messer

Tatsächlich – eine halbe Stunde später – kam über Wechat eine Message: Auftrag ist eingegangen. Er könne das gefährliche Stück aber erst nach dem 1. Oktober nach Peking liefern, wenn die Paraden zu Ende seien. Seine gute Nachricht: Alles koste mich nur 23 Yuan (drei Euro) und werde ins Haus gebracht.

Gut, dass ich mein Messer schon nach der ersten Durchleuchtung losgeworden war. Denn auf dem Bahnhof Wuhan wurden ich und mein Gepäck wie bei allen Peking-Reisenden noch ein zweites Mal kontrolliert, dann nochmals im Zug und bei der Ankunft in der Hauptstadt erneut. Mehrfach genäht hält besser. Schließlich hat Peking für seine Nationalfeiern Sicherheitsstufe eins ausgerufen.

Selbstbewusstes China

Ich passierte alle Kontrollen. Ohne Schweizer Messer oder lebende Krebse im Gepäck wurde ich nicht als Gefahr für die als größte und modernste Waffenschau angepriesene Parade identifiziert, mit der die Volksrepublik der Welt am 1. Oktober zeigen will, wie stark und selbstbewusst sie nach 70 Jahren geworden ist. (Johnny Erling aus Peking, 24.9.2019)