Wer erlöst hier die Moderatorin von ihrer Fron? Jan Thümer (Pistole) zielt auf Evi Kehrstephan.

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Kurz bevor der alte Klepper Stadttheater endgültig in die Knie geht, bringt er sich selbst noch einmal kurz zum Wiehern. Im Wiener Volkstheater sind die Uhren auf Abschied gestellt. Voller Wehmut beginnt man im Haus, die eigene, vielfach ruhmlos verlaufen(d)e Ära Badora beflissen zu reflektieren. Fast schämt man sich, den skrupulösen Akt der Selbstbefragung durch die eigene Anwesenheit zu stören.

Man hat zum selbstbezüglichen Zweck sogar einen US-Roman ausgegraben. Die Mehrzahl der Menschen kennt das verdienstvolle Werk aus den finsteren 1930ern bloß in Form einer Sidney-Pollack-Verfilmung (mit Jane Fonda): Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss. Der Autor des Buches heißt übrigens Horace McCoy.

Die Zeit der Großen Depression darf getrost als Fanal angewandter Menschenfeindlichkeit angesehen werden. Paare, die sonst von der Hand in den Mund lebten, nahmen an bemerkenswert unglamourösen Tanzmarathons teil. Der Wettbewerb aller gegen alle wurde als hemmungslose Show inszeniert: aufgelockert durch Akte der Selbstentblößung, gewürzt durch die schändliche Preisgabe eigener Integrität.

Und so sieht man noch vor Beginn der Miloš-Lolić-Inszenierung erschütternde Bilder zähnefletschenden Frohsinns. Die geschundenen "Gäule" hetzen paarweise durchs Stiegenhaus. Sie versammeln sich im Roten Salon, wo sie die Beinchen schmeißen, als gelte es, einen Roman von F. Scott Fitzgerald nachzutanzen.

Instrument obszönen Genusses

Wieder einmal wird die Live-Kamera zum Instrument obszönen Genusses. Man begafft das Leid der anderen. Die Kulturindustrie verschlingt noch die ärmsten der Armen. Ihre Opfer winken fröhlich ins Objektiv und schützen Frohsinn vor. Dann nimmt der (relativ kurze) Abend einen von der Grundintention gänzlich abweichenden Verlauf.

Er bläht sich zur meta-reflexiven Blase. Er ähnelt zunehmend einer Leistungsschau in eigener Sache (der des aktuellen Volkstheaters) und verrät immer weniger über die Möglichkeiten gelingenden Theaters. Ungleich deutlicher lässt er fühlen, wie kindlich gekränkt die Herrschaften im Leitungsbüro am Arthur-Schnitzler-Platz sind. Aufgekratzt reagiert nur das Moderatorenpaar (Evi Kehrstephan, Jan Thümer), das für jede Möbelshow in einem Einkaufszentrum Ehre einlegen würde. Nicht die Auslese der Paare spielt die entscheidende Rolle, nicht die Ausdehnung des Konkurrenzgedankens auf den Sport. Nicht die kesse Sohle dominiert, sondern das Mundwerk. "Es geht um Aufmerksamkeit!" Und weil das Volkstheater von diesem Rohstoff offenbar zu wenig erhält, spielen die Paare nacheinander Szenen der dramatischen Weltliteratur nach. Natürlich nur solche, die in der wechselvollen Geschichte des Hauses irgendwann von Belang gewesen sind.

Unter einer Lichtskulptur mit Kugellampen (Ausstattung: Diego de Ramón Sánchez) erhält man Kostproben kredenzt. Die Badeszene von Marianne und Alfred in Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald? Bitte sehr! Und die famos mürrische Birgit Stöger (Marianne) lässt unter Garantie keinen Gedanken an Inge Konradi in der Erstaufführung von 1948 aufkommen.

Selbst ist das Theater

Der gnadenlose Kampf aller gegen alle entfällt. Das Stück? Wegen akuter Selbstbeschäftigung geschlossen! Stattdessen gibt es Snacks serviert, von Schnitzler und Brecht, von Bauer, Bernhard, Jelinek und Shaw. Zwischendurch legen handelnde Personen mit der Pistole aufeinander an. "Hilf mir!" Die Rahmung durch McCoys Roman gerät aus dem Blick. Lieber reißt man Witze über das so genannte "Führerzimmer" im Haus. Oder man versammelt die Geister der toten Gäule, die beim Leichnam der Tänzerin "Gloria" (Stöger) hechelnd zur Tränke gehen.

Der teils heftig bejubelte Abend: vielleicht ein Gnadenschuss. Aber bestimmt einer in den Ofen. (Ronald Pohl, 23.9.2019)