Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein normales kleines Haus, das sich perfekt in die Wiener Stadtrandidylle einreiht. Unweit von der Seestadt, aber fast schon mit Kleingartenflair steht das Einfamilienhaus nur noch in Spuckweite von Niederösterreich entfernt. Es beherbergt aber nicht nur eine, sondern gleich mehrere Familien: Solche, die – hätten sie nicht diesen Platz hier gefunden – auf der Straße stünden.
Luis und Andrea* kennen bereits mehrere Heimaten. Dass sie auch dieses kleine Haus in Eßling einmal dazu zählen würden, hätten sie sich vor ein paar Jahren aber nicht gedacht. Kennengelernt haben sich die beiden in Houston, Texas. Beide Töchter, die heute elf und 15 Jahre alt sind, wurden in den USA geboren. Als Luis nach vielen dort verbrachten Lebensjahren von seiner bevorstehenden Abschiebung erfuhr, gingen sie zurück nach Peru.

Keine Chance auf Wohnung
Doch in Lima sahen sie keine Perspektive: "Wir konnten unsere Töchter nicht allein zur Schule gehen lassen. Es wäre zu gefährlich gewesen", sagt Andrea. "Und wir konnten die Bildung unserer Töchter nicht mehr finanzieren", sagt Luis. Also kamen sie nach Wien – keine zufällige Entscheidung, denn Luis' Familie hat hier ihre Wurzeln, auch er selbst besitzt die Staatsbürgerschaft.
Als Luis nach Wien kam, schlief er in dem Restaurant, in dem er als Koch arbeitete. Er wollte Geld sparen. Aber als der Rest der Familie da war, fanden sie keine Wohnung, die sie sich leisten konnten – und wenn doch, fanden sie niemanden, der an sie vermieten wollte. Deshalb landeten die vier im "Mama-Papa-Kind"-Haus in Eßling.

Keine Aufnahmekriterien, aber Hausordnung
Seit fünf Jahren bietet der Verein "Mut" in Not geratenen Frauen und Familien mit Kindern eine Möglichkeit zum Schlafen. Luis, Andrea und ihre Töchter blieben neun Monate und wohnten im Keller. Eine Notlösung, denn der Platz ist begrenzt: Durchschnittlich 20 Menschen leben hier auf 260 Quadratmetern. Pro Zimmer, von denen sich im ersten Stock eins an das andere reiht, ist in der Regel eine Familie untergebracht.
Aufgenommen wird, bei wem "eine gewisse Perspektive ersichtlich ist", sagt Leiterin Tamara Gruber-Koll. "Uns ist wichtig, dass erste Schritte Richtung Arbeitsmarkt gesetzt und Deutschkurse besucht werden." Außerdem herrscht striktes Alkoholverbot. Andere Kriterien wie eine bestimmte Staatsbürgerschaft müssen nicht erfüllt werden. Das Haus ist eine der wenigen Unterkünfte in Wien, für die das Thema keine Rolle spielt. Vermittelt werden die Klienten meist von Sozialeinrichtungen, die bereits überfüllt sind, oder vom Jugendamt.

Über dem großen Tisch im Erdgeschoß hängt eine Schnur, an der kleine Pappendeckel mit kurzen Botschaften aufgefädelt sind: "Hilf, wo du kannst" steht auf einem. Es ist das Ergebnis eines gemeinsamen Nachmittags von Müttern, die sich untereinander und mit Sozialpädagoginnen über ihre Belastungen im Alltag ausgetauscht haben.
Denn diese sind oft hoch: Auch alleinerziehende Frauen kommen nach einer Trennung, der oft eine Gewaltbeziehung vorausging, in das Haus. Das Ziel ist, dass Bewohner nach spätestens sechs Monaten wieder ausziehen. In 63 Prozent der Fälle gelingt es, dass sie in eine eigene Wohnung umziehen. Der Rest kommt dann bei Freunden, in Übergangswohnungen oder anderen Einrichtungen unter.

Konditorin und Koch
Andrea sitzt im Garten der Notunterkunft und zündet sich eine Zigarette an. "Tagein, tagaus haben wir Wohnung und Arbeit gesucht", sagt sie. Beides gelang, schlussendlich: Heute wohnen sie zu viert auf 48 Quadratmetern – ein Schlafzimmer, eine Wohnküche. Andrea arbeitet 40 Stunden als Konditorin in einem Nobel-Restaurant im ersten Bezirk. Luis erholt sich derzeit von einer Verletzung und hofft, auch bald wieder arbeiten zu können. "Irgendwann", sagt er, "eröffnen wir ein eigenes Restaurant." (Vanessa Gaigg, 4.10.2019)