Die Sozialversicherungsreform ist eines der wenigen Gesetzesvorhaben, die von der türkis-blauen Regierung tatsächlich durchgezogen worden ist. Sie ist politisch und rechtlich umstritten: Aufgrund einer Beschwerde der SPÖ prüft der Verfassungsgerichtshof das Vorhaben.

22. Mai 2018: Sebastian Kurz präsentiert mit seinem Kabinett die Reform der Sozialversicherungen.
Foto: APA

Bei einem Jus-Alumni-Frühstück im STANDARD beschrieb Michael Potacs, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Wien, vor Absolventen des Juridicums die größten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Reform. Dabei gehe es um die Frage der Selbstverwaltung, eine der Eigenheiten der österreichischen Verfassung.

Verstärkte Zweifel

Selbstverwaltungskörper wie die Kammern sind demnach rechtlich autonom, benötigen eine interne demokratische Legitimation durch ihre Mitglieder sowie weitgehende Weisungsfreiheit, wobei der Staat ein Aufsichtsrecht hat. Bei den Krankenkassen wurde es immer wieder infrage gestellt, ob die Selbstverwaltung passt, und diese Zweifel seien durch die Reform noch verstärkt worden, betont Potacs, der als Gutachter für den Hauptverband tätig war.

  • Die Mitglieder der Sozialversicherung sind die Versicherten, nicht die Unternehmen. Bisher besetzten die Arbeitgeber dennoch ein Viertel der Gremien, in Zukunft die Hälfte. Das untergräbt die demokratische Legitimation.
  • Die Aufsicht durch das Ministerium und dessen Einflussmöglichkeiten wurden deutlich ausgeweitet. Bisher nahmen die Träger die Zielsteuerung autonom vor, in Zukunft kann der Staat bei allen wichtigen Fragen eingreifen – und eine wichtige Frage ist jede Ausgabe über zehn Millionen Euro. Dadurch könne das Ministerium de facto Weisungen erteilen.
  • Außerdem kann die Verwaltung die Vertagung von Tagesordnungspunkten verlangen und muss bei Dienstpostenplänen zustimmen. "Das schränkt die Personalautonomie stark ein", sagt Potacs.
  • Ab 2021 müssen alle in Gremien entsandten Vertreter ihre fachliche Qualifikation nachweisen. Geprüft werden etwa Kenntnisse der Betriebswirtschaft durch eine Kommission, die vom Ministerium bestellt wird. Dies sei weniger für Wirtschaftsvertreter ein Problem, denn die seien meist Akademiker, sehr wohl aber für Gewerkschafter ohne Studium.

"Hier findet ein Wandel von einer kontrollierenden Verwaltung zu einer leitenden Verwaltung statt", sagt Potacs. Weitaus weniger problematisch sei hingegen die Zusammenlegung der neun Gebietskrankenkassen in einer Bundesgesundheitskasse.

Potacs hält es für verständlich, dass der Staat in einem so wichtigen Bereich wie dem Gesundheitssektor, in den so viele Steuermilliarden hineinfließen, stärker eingreifen will. Aber auch die Selbstverwaltung habe einen Sinn, weil sie den Sektor vor kurzfristigen politischen Interessen schützt.

Michael Potacs zur Sozialversicherungsreform: "Hier findet ein Wandel von einer kontrollierenden Verwaltung zu einer leitenden Verwaltung statt."
Foto: APA

Welche Auswege gibt es aus dem Dilemma? Sollte der VfGH die Novelle weitgehend aufheben, weil sie im Widerspruch mit dem Prinzip der Selbstverwaltung steht, könnte eine neue Regierung ein Modell der Ausgliederung wie beim AMS wählen, ein "mit Hoheitsgewalt Beliehener". Das Problem dabei: Laut Verfassung dürfen nicht ganze Verwaltungsbereiche beliehen werden.

Möglich wäre auch ein Verfassungsgesetz, das den Sozialversicherungsträgern zwar die Selbstverwaltung entzieht, sie aber wie etwa die Universitäten für weitgehend autonom erklärt.

Eine andere Option aber ist laut Potacs, dass der VfGH die Reform nur punktuell aufhebt, etwa die umstrittene Prüfungsregelung, den Großteil aber im Geiste eines politischen Pragmatismus für verfassungskonform erklärt. (Eric Frey, 26.9.2019)