Eigentlich habe er gar nicht so viel erlebt, worüber man erzählen könnte, sagt Max Jäger. Keine zwei Minuten braucht der 91-Jährige, um sein Leben zusammenzufassen: Jäger wurde in Wien geboren, hat hier die Volksschule absolviert, ist nach Argentinien ausgewandert und dort aufgewachsen. Später hat er Elektronik studiert, geheiratet, zwei Kinder – einen Sohn und eine Tochter – bekommen und das ganze Leben lang gearbeitet.

Und doch sitzt der 91-Jährige im Spiegelsaal der Wiener Hofburg, wo ihn Bundespräsident Alexander Van der Bellen in Wien begrüßt und ihm zum Geburtstag gratuliert. Es ist das vierte Mal, dass Jäger, der 1939 vor den Nationalsozialisten fliehen musste, in seine Geburtsstadt zurückgekehrt ist – erstmals über das Jewish Welcome Service.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen begrüßt Max Jäger in der Wiener Hofburg.
Foto: Matthias Cremer

Im September 1928 wird Jäger als drittes und letztes Kind der Familie in Wien geboren. Schon im darauffolgenden Jahr verlässt sein Vater Österreich in Richtung Südamerika – "wegen der Krise", sagt Jäger. Die Mutter habe er nie gekannt, wegen einer Krankheit werden sie "separiert" , als Jäger neun Monate alt ist, erzählt er trocken.

Seine Schwester, sein Bruder und er erhalten ein neues Zuhause bei einer christlichen Familie. Etwa drei Jahre leben sie bei ihnen, bevor sie wieder umziehen. "Die Israelitische Kultusgemeinde wollte, dass wir drei bei einer jüdischen Familie aufwachsen", erinnert sich Jäger. Er ist vier Jahre alt, der Bruder sechs und die Schwester neun, als die Jäger-Kinder nach Hernals zu neuen Eltern, die eine eigene Tochter haben, ziehen.

Die Kindheit im Wien der Zwischenkriegszeit ist nicht einfach. Die Familie, bei der Jäger aufwächst, ist arm. "Vielmals hatten wir nichts zu essen", erzählt er. In der Kindermanngasse 1 besucht Jäger vier Jahre lang die Volksschule.

Bei einem Österreich-Besuch vor ein paar Jahren kehrt er zurück nach Hernals, wo er Fotos von dem noch immer bestehenden Schulgebäude macht.

Antisemitismus der 1930er

"Es gab immer Antisemitismus in Österreich – lange vor dem ,Anschluss'", erinnert er sich an die Schulzeit. Der Hass auf die jüdische Bevölkerung zeigt sich auch unter den Kindern. "Die Kinder hauten uns und riefen 'Jud, Jud!' auf der Straße. Aber man hat sich daran gewöhnt", erzählt Jäger und zuckt mit den Schultern. "Das muss man selbst erlebt haben, sonst versteht man es nicht."

Als Jäger neun Jahre alt ist, erfolgt der "Anschluss". Wenig später wird die Familie aus ihrer Wohnung geschmissen. "Es ist ein Nazioffizier in unsere Wohnung gekommen. Er hat gesagt, es gefällt ihm hier. Und hat nur geschrien: 'Raus!'" Innerhalb von wenigen Stunden verlässt die Familie ihr Zuhause.

Ob er etwas mitgenommen hat? "Wir hatten ja nichts. Was soll ich da mitnehmen? Das, was wir am Leib hatten", entgegnet der 91-Jährige. Doch eines war dem Buben wichtig, fällt ihm kurz darauf ein: "Mein Schulheft habe ich mitgenommen. Das habe ich noch immer zu Hause, und meine Zeugnisse." Denn Jäger ist ein guter Schüler – "lauter Einser", sagt er stolz. Lieblingsfach: Mathe.

Von Hernals in die Leopoldstadt

Nach Hernals folgt die Leopoldstadt: "Wir mussten dorthin. Das war klar. Es war kein geschlossenes Ghetto, aber ..." In dieser Situation zunehmender antisemitischer Repression fiel der Beschluss, nach Argentinien zu gehen. Der Vater, der schon zehn Jahr lang in Buenos Aires lebte, holte seine Kinder nach. An die Tage vor dem Aufbruch erinnert sich Jäger nicht mehr, oder er will einfach nicht darüber reden.

Nur so viel: 1939 verlassen die drei Kinder alleine Wien, fahren mit dem Zug nach Triest und gehen an Bord eines Schiffes. Drei Wochen sind sie auf hoher See, bevor sie in Buenos Aires ankommen. "Meine Schwester war 15, mein Bruder zwölf und ich zehn", sagt Jäger. Und: "Wir sind nicht geflohen, wir sind ausgewandert. Nach dem ,Anschluss' hat uns der Vater nachgeholt", stellt Jäger klar. Nach der Ankunft in Buenos Aires wohnen die Jägers zusammen mit einer anderen Familie, bis der Vater wieder heiratet. Die Familie hatte selber drei Kinder. "Sechs Kinder im Haus", sagt der alte Mann lachend: "Das war was."

Der Vater stellt Schuhputzcreme her – "zu Hause bei Nacht in meinem Zimmer", sagt Jäger: "Am Tag ging er herum und verkaufte sie. Später eröffnete er eine Fabrik." Jäger wächst in jüdischer Umgebung auf, obwohl er selbst nie gläubig war. "Man ist auch Jude ohne Religion."

Von Wien aus ist Max Jäger nach Buenos Aires ausgewandert.
Foto: Matthias Cremer

Argentinien war ein Land mit liberaler Einwanderungstradition. Doch im Jahr 1938 verschärft die Regierung die Gesetze und erschwerte Juden die Einreise. Trotzdem flohen Schätzungen zufolge 40.000 deutschsprachige Juden, etwa 2300 von ihnen aus Österreich, in das südamerikanische Land.

Doch auch in Buenos Aires ist es nicht leicht. "Man fühlte es immer: Ein Jude ist ein Jude, und der ist nie zu Hause. Nirgendwo." Bis heute fühle er sich nicht als Argentinier. "Dort war ich immer ein Ausländer", sagt Jäger. Er spreche Spanisch "ganz natürlich", aber "man merkt gleich, dass ich nicht von dort bin". Nur in Israel hat sich Jäger daheim gefühlt. Bei einem Besuch seiner Tochter, die dort 15 Jahre lang gelebt hat. Warum er nicht in Israel geblieben ist? "Meine Frau war die einzige Tochter, ihre Eltern haben in Buenos Aires gelebt, wir konnten nicht weg."

Wien bleibt Wien

Als Wiener fühlt sich Jäger hingegen, auch 80 Jahre nachdem er die Stadt verlassen musste. Lieber wäre er hiergeblieben, in Wien aufgewachsen. "Aber das war nicht möglich. Nur den Wiener Akzent habe ich nicht verloren", sagt Jäger.

Den Weltkrieg, die Zustände in Europa und den Holocaust bekommt Jäger in Argentinien kaum mit. "Ich war noch so klein, ich habe nicht viel verstanden." Die weitere Geschichte der jüdischen Familie, bei der er in Wien fünf Jahre lebte, kennt Jäger heute. Die Tochter floh in die Schweiz. Die Frau, die ihn großgezogen hatte, wurde in Auschwitz ermordet. Ihr Mann kam nach Dachau und floh dann nach Russland. In Russland hat er geheiratet und wurde erneut Vater. "Ich habe ihn noch einmal gesehen", erzählt Jäger: "Er war 60 Jahre und ein sehr alter Mann."

Bei dem wahrscheinlich letzten Besuch von Max Jäger in Wien legt der 91-Jährige einen Stopp in der Wiener Hofburg ein.
Foto: Matthias Cremer

Dreimal besucht Jäger Wien, immer mit seiner Frau. 63 Jahre waren die beiden verheiratet. Vor zwei Jahren starb sie. Daher reiste er diesmal allein. 17 Stunden im Flugzeug. "Ich glaube, es wird mein letzter Besuch. Es ist eine lange Strecke."

Mit seinen Kindern habe er über sein Leben in Wien gesprochen, sagt Jäger. "Ich denke oft darüber nach, wie sie aufgewachsen sind. Sie hatten ein ganz normales Leben. Unsere Kindheit war ganz anders. Nix war normal." (Oona Kroisleitner, 30.9.2019)