Das Horn gestopft, den Blick nach innen gekehrt, so bereiste Jazztrompeter Miles Davis unerhörte Klangbezirke – hier, wenige Wochen vor seinem Tod 1991, in Paris.

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Liest man in seiner Autobiografie nach, wie verloren und zugleich voller Lebenshunger Miles Davis durch die knallbunten 1980er-Jahre stolperte, muss man sich über keines seiner damals veröffentlichten Alben wundern. Die Zeitspanne vor und nach 1985, sie gleicht in der ohnehin wundersamen Karriere des Klanggenies aus East St. Louis einer Anhäufung von Kriseninterventionen.

Der neben Dizzy Gillespie und allenfalls Chet Baker größte Jazztrompeter aller Zeiten hatte Schlaganfälle überstanden. Er widersetzte sich Haarausfall und Bedeutungsschwund. Vor allem aber wollte Miles Davis, das krächzende Genie der Cool-Spielweise, noch lange nicht zum alten Eisen gehören.

Schon gegen Ende der 1960er hatte Davis den modalen Kammerjazz seines berühmten zweiten Quintetts umgestellt. Mit weitreichenden Folgen: Die Musik seit "Bitches Brew" (1969) zielte auf die Überwältigung eines rockinfizierten Publikums durch elektrische Überzeugungskraft. Davis entfesselte bis weit nach 1970 wahre Funk-Stürme, gestützt auf das Fundament vergleichsweise einfacher Bassfiguren. Er selbst glich einer Kreuzung von Patti LaBelle und Karlheinz Stockhausen. Weiterhin durch Mark und Bein ging sein Trompetenton. Der kündete unverändert von stillem Stolz, etwa auf Herkunft und Hautfarbe, und mehr noch von unüberwindlicher Einsamkeit.

Als Davis im Sommer 1985 von der Plattenfirma Columbia zu Warner Brothers wechselte, sollte sich der schwierige Star noch einmal lockern. Prompt räumte man ihm Drumcomputer und Yamaha-Keyboards ins Studio. Erstere poltern, als würden Restmüllkübel in den Rinnstein geworfen. Die Tasteninstrumente ziehen Fäden wie frisch ausgekühlter Schmelzkäse. Miles Davis‘ endgültiger Popstar-Werdung stand im Prinzip nichts im Wege, es sei denn die engen Grenzen des damaligen Popmusikgeschmacks.

Ablage im Archiv

Das nunmehr posthum veröffentlichte Miles-Album "Rubberband" ist ein seltsamer Hybrid: ein Homunculus der Jazzgeschichtsschreibung. Das Material, dessen Vorhandensein schon seit Ewigkeiten bemunkelt wird, fand zur Zeit seiner Entstehung keine Gnade in den Ohren von Warner-Jazzgott Tommy LiPuma. Zu lau dünkte diesen die Betriebstemperatur der bisweilen unentschlossen vor sich hin plätschernden Produkte. Die Bänder wanderten ins Archiv.

Heute haben sowohl Miles‘ Kinder als auch Neffe Vince Wilburn Jr., selbst ein gelernter Drummer, höchstes Interesse an der Reanimation der vermeintlichen Leiche(n). Und um es kurz zu machen: Die aparten Tanzschritte dieser pflichtschuldig zusammengeflickten Zombies jagen selbst hartgesottenen Modaljazz-Jüngern Tränen der zartesten Rührung in die Augenwinkel.

Miles lebt! Und sollte er wider Erwarten doch nicht mehr leben, so hilft man eben mit gezielten Stromstößen aus dem Defibrillator nach. Zu welch besserem Zweck ist die musikalische Postmoderne schließlich erfunden worden?

RHINO

Die Namen der zahlreichen Studiomietknechte und Helferleins wird man sich nicht merken müssen. Natürlich horcht man sofort auf, wenn Gitarrist Mike Stern gemeinsam mit Miles ein teuflisch kompliziertes Bebop-Motiv über das Pflaster von Malibu jagt (Maze). Erinnerungen an die Rallyes auf dem etatmäßigen Livealbum "We Want Miles" werden wach.

Noch über dem frotteeweichen Klangteppich einer albernen Calypso-Nummer hetzen Miles‘ geniale Trompetenkürzel. Bei anderer Gelegenheit hallt das Horn behutsam. Einer der größten Melodiker der Jazzgeschichte ist sich nicht zu schade für Ornamente. Und seine Auslassungen tönen jederzeit sanglicher als die der vor das Mikrofon gezerrten Ersatz-Chaka-Khans.

Nach der Unvollendeten von "Rubberband" stürzte sich Davis kopfüber in das Abenteuer von Tutu. Noch einmal stand er dem Zeitgeist vis-á-vis, maß sich mit ihm Aug‘ in Auge. Er wollte Prince sein, Sly Stone, James Brown, am besten alle drei auf einmal.

Sein Ton verschwand allmählich in den unwirtlichen Klangräumen der Kulturindustrie. Miles Davis hauchte noch ein paar Mal engelszart. Er stand mit dem Rücken zum Publikum, das er so nachhaltig zu beeindrucken suchte. Irgendwann war von ihm nichts mehr übrig, außer dem Klang. Selbst auf einer Platte wie "Rubberband" ist er für immer aufgehoben. (Ronald Pohl, 25.9.2019)