Der ÖVP-Chef bei einem Vorwahlbesuch im Seniorenheim: "Kurz hat die Wohlfühlpolitik der Sozialdemokraten übernommen."

Foto: Sonja Radakovits-Gruber

Es war "eine ordentliche Schieflage" zwischen Jung und Alt, die Therese Niss beklagte. Mit den hohen Ausgaben für die Pensionen werde Geld konsumiert, "das in der Zukunft fehlt", sagte die Chefin der Lobbyorganisation Junge Industrie und kritisierte, dass Pensionisten "als einzige Gruppe" automatisch die Inflation abgegolten bekämen: "Die Generation meiner Tochter wird für diese Sünden büßen."

Gefallen sind diese Sätze vor sechs Jahren in einem Streitgespräch im STANDARD. Mittlerweile ist Niss ÖVP-Abgeordnete im Nationalrat – und hat vergangene Woche nicht nur den Teuerungsausgleich mitbeschlossen, sondern darüber hinaus auch eine Extra-Erhöhung für kleine Pensionen. Kosten wird das insgesamt 1,2 Milliarden Euro pro Jahr.

Wie das zu den damaligen Aussagen passt? Eine STANDARD-Anfrage verlief ergebnislos, ein Mitarbeiter Niss' bittet um Verständnis: Die Pensionen seien im Wahlkampf nicht ihr Thema.

Der Wind hat sich gedreht in der ÖVP. Früher lag der schwarze Wirtschaftsflügel dem damals roten Koalitionspartner mit dem Ruf nach Pensionsreformen in den Ohren – der einstige Finanzminister Hans Jörg Schelling wollte die Pflicht dazu sogar in die Verfassung schreiben. Doch seit Sebastian Kurz an der Spitze steht, sind Einschnitte kein Thema mehr. Stattdessen gibt es für die Senioren – so auch bei der Mindestpension – gerne ein Schäuferl drauf.

Jetzt noch schmerzfrei

"Kurz hat die Wohlfühlpolitik der Sozialdemokraten übernommen und treibt sie auf die Spitze", urteilt der Pensionsexperte Bernd Marin. "Früher galt: zwei Schritte vor, einer zurück. Jetzt geht es fast nur noch retour." Dass Kurz als Kanzler keine Pensionsreform anzupacken wage, "wird für uns alle teuer werden", prophezeit Marin: Die Lebenserwartung steige rapide, 1,9 Millionen Babyboomer gingen bis 2034 in den Ruhestand – die Erwerbstätigen müssten eine Million Pensionisten zusätzlich finanzieren. Noch ließe sich das "schmerzfrei" bewältigen, indem man das gesetzliche Pensionsalter "in homöopathischen Dosen" ein bis zwei Monate jährlich anhebe, sagt der Experte. "Doch Kurz macht nur, was populär ist. Seine einzige Maxime ist die Stimmenmaximierung."

Blanker Populismus also? Es gibt Zahlen, die Kurz' Position stützen. Die ÖVP verweist neuerdings auf dieselbe Berechnung wie die SPÖ. Laut dem Ageing Report der EU-Kommission, der auf aus Österreich übermittelten Daten beruht, wird der Zuschuss aus Steuergeld ins Pensionssystem von derzeit 4,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis 2040 auf 5,2 Prozent ansteigen, um bis 2070 wieder auf 4,7 Prozent zu sinken. Als "moderat" stufte das die türkis-blaue Regierung ein.

Wie das zu erklären ist: Zwar treibt die Alterung der Gesellschaft die Kosten für das allgemeine Pensionssystem in die Höhe., doch im Gegenzug laufen die Sonderrechte pensionierter Beamten als Folge der Reform von 2004 aus, was üppige Einsparungen bringt.

Unter Fachleuten ist diese Prognose allerdings umstritten. Christine Mayrhuber vom Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) hält die Zahlen nicht nur für solide, sondern sogar für vorsichtig angesetzt. Christopher Prinz von der OECD hingegen sieht wie Marin "berechtigte Gründe für Zweifel". Es frage sich, ob die getroffenen Annahmen halten – etwa ob die Programme für Umschulung und Rehabilitation angeschlagene Arbeitnehmer tatsächlich vor der dauerhaften Invaliditätspension bewahren: "Wir haben noch keine Belege dafür, dass das funktioniert."

Absage an die Automatik

Prinz hält es deshalb "für das Logischste der Welt", das Pensionsantrittsalter laufend mit der steigenden Lebenserwartung anzuheben. Die Neos haben eine solche Automatik im Programm: Abhängig von Jahrgang und Lebenserwartung hat jeder ein Referenzpensionsalter. Wer früher geht, muss Einbußen hinnehmen, wer später geht, erhält Zuschläge.

Doch auch hier scheiden sich die Geister der Experten. 40 bis 50 Prozent der regulären Alterspensionisten träten schon jetzt nicht aus aktiver Beschäftigung in den Ruhestand ein, rechnet Wifo-Forscherin Mayrhuber vor: Für Menschen mit schlechten Chancen bedeute ein höheres Antrittsalter nur noch längere Arbeitslosigkeit – die Kosten würden die Ersparnis im Pensionssystem zu einem Gutteil aufwiegen. Anders OECD-Vertreter Prinz: Die Arbeitslosigkeit vor Pensionsantritt würde sich wohl nicht verlängern, sondern nach hinten verschieben. "So lange wir den Arbeitgebern nicht das Signal senden, dass ältere Menschen länger im Job bleiben müssen, wird sich am Abschieben in die Pension wenig ändern", glaubt er: "Erst dann wird Gesundheitsförderung und Weiterbildung für alle Beschäftigten zur Realität werden."

Kurz hat sich festgelegt: Nein zur Automatik. Auch das war früher anders. Der vorletzte VP-Finanzminister Schelling hatte dieselbe Idee gepusht – und war in der großen Koalition gescheitert. Die künftige Regierung wird zeigen, ob die Festlegung nun unter umgekehrten Vorzeichen hält. (Gerald John, 25.9.2019)