Filmszene aus "Systemsprenger": Die neunjährige Benni möchte nur eines –Liebe, Geborgenheit und wieder bei ihrer Mutter wohnen.
Foto: Port au Prince Pictures

Egal ob Pflegefamilie, Sonderschule oder Wohngruppe – Benni fliegt überall wieder raus, denn sie ist aggressiv und nicht zu bändigen. Sie ist das, was man im deutschen Jugendamt "Systemsprenger" nennt. Dabei beziehe sich der Begriff aber nicht auf das Kind selbst, sondern auf einen Prozess, der sich zwischen dem Kind und dem Hilfssystem abspielt. Es sind Kinder und Jugendliche, die – bedingt durch ihr unberechenbares Verhalten – keine sichere Basis oder ein Zuhause finden und stattdessen zwischen Ämtern, Institutionen und Pflegefamilien hin und her geschoben werden.

Ein Hilfeschrei von verzweifelten Kindern

Die Geschichte im Film ist fiktiv – doch vergleichbare Fälle gibt es auch in Österreich. "Die Darstellung ist sehr realistisch", sagt Andrea Friemel, Pressesprecherin der Wiener Kinder- und Jugendhilfe (MA 11). "Es gibt zahlreiche verzweifelte Kinder, die aufgrund multipler Traumatisierungen und massiver früher Bindungsstörungen zeitweise solches Verhalten zeigen." In Wien geht man von ungefähr sechs bis zwölf Kindern pro Jahr aus, die selbst die Experten überfordern. Von "Systemsprengern" will man trotzdem nicht sprechen: "In unserer jahrzehntelangen Arbeit gab es bisher noch kein einziges Kind, das wir aufgegeben haben."

Kann sich ein Kind nicht in einer Pflegefamilie oder in einer Wohngemeinschaft integrieren, gibt es in Österreich diverse alternative Möglichkeiten, um das Kind oder den Jugendlichen aufzufangen. Dafür müsse man aber die Probleme der Kinder verstehen lernen. Ihr Verhalten sei meist nichts anderes als ein Hilfeschrei, weshalb Sozialpädagogen und Sozialarbeiter in erster Linie die Ursachen der Auffälligkeiten klären und im nächsten Schritt über die notwendige Unterstützung sprechen.

Der Trailer zum Film "Systemsprenger" von Nora Fingscheidt.
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Unterstützung des gesamten Familiensystems

"Wir fragen uns nicht nur, was das Kind braucht, sondern was das ganze Familiensystem braucht", erklärt Friemel. "Manchmal sind es einfach nur Hilfen im Haushalt oder Hausbesuche, manchmal eine intensivere Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern und Therapeuten." Sollten diese Maßnahmen nicht greifen und das Kind in der Familie gefährdet sein, zum Beispiel durch Gewalt oder Vernachlässigung, ist eine Herausnahme aus der Familie zu seinem Schutz notwendig. In anderen Fällen, wie es im Film zu sehen ist, sind es manchmal auch die Eltern selbst, die das Kind nicht mehr tragen können. Kinder unter drei Jahren werden bei Pflegefamilien untergebracht, ältere kommen in Wohngemeinschaften. Gemeinsam mit Experten aus der Sozialpädagogik, der Sozialarbeit und Psychologie wird entschieden, welche Maßnahmen weiter getroffen werden, um die Situation zu verbessern. Es steht auch laufend ein Spezialist der Kinder- und Jugendpsychiatrie zur Verfügung.

Wichtig ist auch zu wissen, dass in solchen Prozessen die Eltern nicht exkludiert werden. In der Zeit, in der Kinder aus der Familie genommen werden, arbeiten die Helfer konsequent und gemeinsam mit den Bezugspersonen an Lösungsansätzen, um die Situation zu verbessern. Meist haben die Kinder nämlich nur einen Wunsch: wieder nach Hause zu dürfen. "Die Eltern sind die wichtigsten Personen für ihre Kinder", sagt auch Sabine Windisch, die seit über 25 Jahren als Sozialpädagogin in diversen Wohngemeinschaften tätig ist. "Ganz egal, was vorgefallen ist." Den Mitarbeitern der Kinder- und Jugendhilfe ist es deswegen ein großes Anliegen, auf Augenhöhe ein respektvolles und positives Gesprächsklima zu erhalten beziehungsweise zu schaffen. Einschränkungen gibt es hier nur im Bereich der Pflegekinder, die schon lange in ihrer Pflegefamilie sind und bei denen keine baldige Rückführung in die Herkunftsfamilie geplant ist. Im besten Fall kann das Kind aber bereits nach sechs bis acht Wochen wieder zur eigenen Familie zurück.

Wien arbeitet auf hohem Niveau

Was passiert, wenn selbst die Unterstützungsangebote in der sozialpädagogischen Wohngemeinschaft oder bei den Pflegeeltern nicht die Situation verbessern? Wenn das Kind zum "Systemsprenger" wird und nur noch hin- und hergeschoben wird? Ein Lösungsweg, der im Film gezeigt wird, ist eine Eins-zu-eins-Betreuung. Die neunjährige Benni verbringt einige Wochen gemeinsam mit einem Antigewalttrainer im Wald. Eine realistische Maßnahme? "Ja, das gibt es auch in Österreich. Für spezielle Kinder werden unterschiedliche Betreuungssettings konzipiert", bestätigt Friemel von der MA 11. Bei schwer betreubaren Kindern gibt es die Möglichkeit spezieller Wohngemeinschaften, in denen nur zwei bis drei Kinder von speziell ausgebildeten Sozialpädagogen betreut werden.

Ein alternativer Ansatz ist auch die Erlebnispädagogik. Das Wiener Modell bietet derzeit 140 derartige Plätze für Kinder und Jugendliche. Diese Angebote kommen unter anderem von privaten Trägern wie "Oase – Verein zur Unterbringung und Betreuung entwicklungsgefährdeter Kinder und Jugendlicher", der Caritas der Erzdiözese Wien oder dem Träger "Neue Wege". Ein gutes Beispiel aus der Erlebnispädagogik ist das Segelschiff des Vereins Noah: Vier Kinder verbringen ein ganzes Schuljahr auf einem Schiff am Mittelmeer. Damit soll eine neue Möglichkeiten der Beziehungsdefinition zwischen Kindern und Betreuern geschaffen werden. Das Leben auf engem Raum erfordert ein hohes Maß an Rücksichtnahme und sozialer Toleranz auch in der Entwicklung von Konfliktlösungsstrategien.

Kinderschutz geht uns alle an

Friemel und Windisch zeigen sich zufrieden: "In Österreich sind die Standards in der Kinder- und Jugendhilfe hoch, und gerade in Wien können wir auf einem sehr guten fachlichen Niveau mit sehr engagierten Kollegen und Kolleginnen die Aufgaben des Kinderschutzes wahrnehmen." Der Schutz und die bestmöglichen Entwicklungschancen für Kinder sollten aber nicht nur die Aufgabe der Jugendhilfe sein. "Wir haben auch Wünsche an die Bevölkerung und an die Medien", äußert Windisch. "Kinderschutz muss ein Anliegen von uns allen werden, Kinder brauchen viele engagierte Erwachsene, die für ihre Rechte eintreten."

Der Wunsch an die Medien bezieht sich vor allem auf eine ganzheitliche Darstellung der Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe. Familien würden verängstigt und abgeschreckt, wenn die Kinder- und Jugendhilfe fast durchgehend negativ und nur in skandalisierten Zusammenhängen medial in Erscheinung tritt. "Wir hoffen, dass der Film ein Beitrag ist, die Situation der Kinder, ihrer Familien und auch der Helfer- und Helferinnensysteme von mehreren Perspektiven aus zu beleuchten." (Nadja Kupsa, 26.9.2019)