Ein Baby nuckelt an einem originalgetreu nachgebauten prähistorischen Fläschchen.
Foto: Helena Seidl da Fonseca

Wien – Wie lange schon werden Babys nicht nur gestillt, sondern erhalten auch das Fläschchen? Und seit wann kann dieses Fläschchen statt menschlicher Muttermilch auch die von Tieren enthalten? Eine aktuelle Analyse verlegt dies über 3.000 Jahre bis in die Bronze- und Eisenzeit zurück.

Funde aus Kindergräbern

Als Untersuchungsgegenstände dienten dem Team um Katharina Rebay-Salisbury und Roderik Salisbury vom Institut für Orientalische und Europäische Archäologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) auffällig geformte Keramikgefäße, die bis zu 6.000 Jahre alt sind. Sie stammen aus einem spätbronzezeitlichen und einem früheisenzeitlichen Gräberfeld in Bayern und wurden in Gräbern von Kindern gefunden, die im Alter zwischen einem und sechs Jahren gestorben waren.

In größerer Zahl kennt man solche Keramiken aus dem Zeitraum zwischen 1.200 und 600 vor der Zeitenwende. Auch im Raum Wien – etwa in der Bundeshauptstadt selbst, in Oberleis oder Vösendorf – wurden solche Gefäße gefunden und sind im Naturhistorischen Museum (NHM) Wien zu sehen.

Form follows function, das galt schon in der Bronzezeit – schloss eine gewisse Bandbreite aber nicht aus. Bei manchen Gefäßen war die Form der von Tieren nachempfunden.
Foto: Katharina Rebay-Salisbury

Dass die Gefäße mit ihren charakteristischen kleinen Öffnungen an der Seite als Fläschchen für Babys und Kleinkinder verwendet wurden, war bereits vielfach vermutet worden. Es wurde aber auch diskutiert, ob sie vielleicht für Kranke oder älteren Menschen dienten. Um den Verwendungszweck zu klären, sind die Wiener Forscher nun zusammen mit Kollegen von der University of Bristol und der Abteilung für Archäologie der Museen der Stadt Regensburg den Gefäßen mit chemischen Analysen zu Leibe gerückt. Ihre Ergebnisse wurden in "Nature" veröffentlicht.

Mittels Gaschromatografie und Massenspektrografie gelang es, in drei der Gefäße die chemischen Signaturen von Milchfetten nachzuweisen, die in dem Material erhalten geblieben sind. Anhand der Verteilung der nachgewiesenen Isotope in den Lipiden lässt sich sogar sagen, dass es sich nicht etwa um menschliche Muttermilch, sondern um Milch von Wiederkäuern – also von Schafen, Ziegen oder Kühen – gehandelt hat. Gerade Ziegenmilch sei aufgrund ihrer relativen Ähnlichkeit zur Muttermilch zum Abstillen gut geeignet, sagt Rebay-Salisbury.

Gesellschaftliche Implikationen

Hier zeige sich, wie Menschen seit Jahrtausenden versuchen, "Arbeit und Kinder zu vereinbaren. Natürlich hat man Kinder immer auch ins tägliche Leben miteinbezogen und einfach mitlaufen lassen – was ja heute nicht immer so gut möglich ist", so die Forscherin, die im Rahmen eines hochdotierten Starting Grant des Europäischen Forschungsrates ERC das Thema Mutterschaft in der europäischen Urgeschichte untersucht. Dass schon damals das Fläschchen zum Einsatz kam, wertet die Forscherin als Weg, die Mutter zu entlasten – und somit als Beleg dafür, dass die Fürsorge für die Babys in der Gemeinschaft geteilt worden sei.

Interessant sei überdies, dass diese Gefäße gerade in der späten Bronze- und frühen Eisenzeit vermehrt verwendet wurden: "Einer Zeit, in der Urbanisierung eigentlich beginnt und viele Leute auf engem Raum zusammenlebten. Man könnte sich denken, dass dann genügend Frauen da gewesen wären, die die Kinder stillen konnten", so Rebay-Salisbury. Für sie wäre auch denkbar, dass einst aus unbekannten Gründen Mütter und Kinder über gewisse Zeiten hinweg getrennt worden sein könnten.

Wie die Arbeitsteilung im prähistorischen Alltag aussah, darüber kann nur aufgrund von Indizien spekuliert werden.
Illustration: Christian Bisig

Im Rahmen des ERC-Grants legt Rebay-Salisbury einen der Schwerpunkte auf die Analyse der Ernährung von Kindern und zur Stilldauer in prähistorischen Zeiten: "Durch die Untersuchungen an Kinderskeletten sehen wir, wie gut Kinder behandelt wurden und wie wichtig Mutterschaft war." Hier zeige sich "eine große Bandbreite, von sehr berührenden Situation, die man in Gräbern sieht", bis zu offensichtlichem Infantizid, also der Tötung von Nachkommen. Aktuell gehe man davon aus, dass in der Urgeschichte rund 35 Prozent der Kinder vor dem ersten Geburtstag starben und die Hälfte das Erwachsenenalter nicht erreichten. (red, APA, 25. 9. 2019)