Nichts ist altbackener als die Zukunft von gestern. Umso überraschender, dass ein fast vier Jahrzehnte altes Science-Fiction-Genre nicht totzukriegen ist. Seit in den 1980er-Jahren der Begriff "Cyberpunk" für die düstere, pessimistische Science-Fiction der Autoren William Gibson, Bruce Sterling, und John Brunner dem "Film noir der Science-Fiction" ein einprägsames Label abgab, wurde es nie wirklich still um die Genrenische. Im Gegenteil: Nicht nur dass mit dem Siegeszug des Internet vor allem Gibsons Romanen wirkmächtige Prophetie unterstellt wurde, wurden auch eigentlich frühere Autoren wie Philip K. Dick vor allem wegen der ästhetisch bahnbrechenden Verfilmung von "Blade Runner" (1982) und japanische SF-Kultfilme wie "Akira" kurzerhand zur eigentlich erst später entstandenen Nische dazugezählt.

Gemeinsam sind allen die Themen: In einer dystopischen nahen Zukunft herrschen Konzerne über urban gedrängte, hochtechnologisierte Slum-Megacities, virtuelle Welten, künstliche Intelligenzen und Transhumanismus sind ebenso Thema wie düstere Krimi-Allgemeinplätze von gebrochenen Antihelden und übermächtigen gesichtslosen Kontrollsystemen. Die Angst vor allem der USA vor einem in der Entstehungszeit der Nische aufstrebenden wirtschaftlich und technisch übermächtigen Japan zeigt sich in einer Faszination mit exotischen Subkulturen und asiatischem Pop.

Klingt noch frisch? Ist es erstaunlicherweise auch. Nicht nur wegen der mit gewaltigem PR-Hype beworbenen Rollenspielhoffnung Cyberpunk 2077 hat Cyberpunk auch 2019 noch etwas zu sagen. Weg war er aber nie; das beweist die folgende Sammlung klassischer, mittelalter und neuerer Cyberpunk-Videospiele.

GamingClassicsHD

Syndicate

1993 veröffentlichte Peter Molyneux’ Bullfrog Studios mit Syndicate einen frühen Vorläufer des Echtzeit-Taktik-Genres. In verhältnismäßig großen, detailliert simulierten dystopischen Städten, die von gewaltigen Konzernen beherrscht werden, steuert man ein kybernetisch aufgerüstetes vierköpfiges Killerkommando durch verschiedene Missionen. Ein absoluter Klassiker mit auch heute noch beeindruckender Cyberpunk-Atmosphäre. Das Reboot aus dem Jahr 2012 hingegen verwurstet den legendären Namen zum lieblosen First-Person-Allerlei. Wer ein Vierteljahrhundert später wieder in diese Welt eintauchen will, kann dies entweder mit den (zB bei GOG) erhältlichen Originalen tun oder aber mit Satellite Reign http://satellitereign.com/ einen großartigen Nachfolger im Geiste genießen.

GOG.com

System Shock

"Look at you, Hacker …" 1994 lehrte die durchgedrehte AI Shodan auf der Citadel-Raumstation Videospieler*innen in aller Welt das Fürchten. Als "Immersive Sim" aus dem Haus Looking Glass ist System Shock als frühes Werk des legendären Gamedesigners Warren Spector ein Cyberpunk-Klassiker, der nur von seinem ebenso gelungenen Nachfolger 1999 übertroffen wurde. Bleibt zu hoffen, dass die aktuell in Entwicklung stehende Fortsetzung dem Kultspiel gerecht wird – das Original zeigt trotz "Enhanced Edition" aus dem Jahr 2015 vor allem in Sachen Bedienung deutliche Alterserscheinungen.

GameSpot

Deus Ex

Verschwörungstheorien, Transhumanismus, Megakonzerne und geheime Regierungsbehörden: Was Warren Spector 2000 mit Deus Ex zeigt, ist mit seiner nicht-linearen, offenen Spielwelt und vielen Entscheidungsmöglichkeiten die logische Fortsetzung der Entwicklung der "immersive sim" und nichts weniger als ein Meilenstein der Videospielgeschichte. Der 2004 erschienen Nachfolger Invisible War kam weniger gut an, das Reboot der Reihe mit Human Revolution (2011) und dessen Fortsetzung Mankind Divided (2016) gelten bis heute als Cyberpunk-Meilensteine im Medium. Eine Fortsetzung war im Gespräch, offiziell ist bislang allerdings nichts.

GameSpot

Shadowrun

Cyberpunk plus Fantasy – geht das? Allerdings, und zwar seit 1989. Das Pen&Paper-Rollenspielsystem Shadowrun, in dessen Welt Science-Fiction und Fantasy aufeinandertreffen, ist mit weit über 100 Romanen sogar eine Zeitlang eine der populärsten Cyberpunk-Franchises überhaupt und wird schon 1993 für das Super Nintendo auch zum Videospiel. Nach einem eher missglückten Multiplayerspiel 2007 sammelte Shadowrun-Erfinder Jordan Weisman in einer der ersten Kickstarter-Kampagnen 2012 stolze 1,83 Millionen Dollar für die Wiederbelebung als Videospiel. Shadowrun Returns (2013) zählt ebenso wie seine Nachfolger Dragonfall und Hongkong zu den gelungensten Rollenspielserien mit Cyberpunk-Setting; dank komplexer Story, interessanter Charaktere und solidem rundentaktischen Gameplay immer noch eine absolute Empfehlung für Rollenspielfreunde.

CAPCOM Germany

Remember Me

Es ist eine Ironie des Schicksals, dass sich an dieses Spiel trotz seines Titels kaum jemand erinnert: 2013 erschienen, ging das Debüt des französischen Entwicklers Dontnod (später mit Life is Strange höchst erfolgreich) nicht nur wegen des zugleich veröffentlichten The Last of Us trotz beeindruckend und originell realisierter Cyberpunk-Atmosphäre sang- und klanglos unter. Als Revolutionärin Nilin kämpft man in Remember Me im dystopischen Neo-Paris gegen einen sinistren Überwachungsstaat, der sich sogar der Erinnerungen seiner Bevölkerung bemächtigt – klassisches Cyberpunk-Material, von der Geschichte verschüttet. Für Fans der Nische absolut einen Griff in die Grabbelkiste wert.

SUKEBAN GAMES

Va-11 Hall-A

Was bitte ist ein "Cyberpunk Bartender Action Game"? Auf jeden Fall ein absolut originelles Spiel, das mit seinen venezolanischen Indie-Schöpfern noch dazu aus einer in der Branche mehr als ungewöhnlichen Ecke kommt. Nicht von der JRPG-Oberfläche täuschen lassen: Das einzigartige Cyberpunk-Abenteuer Va-11 Hall-A, in dem man als Bartender in einer dystopischen Zukunft Drinks für die unterschiedlichsten Charaktere mixt, erzählt eine witzige, manchmal auch tragische, aber auf jeden Fall berührende Geschichte und ist ein Geheimtipp für Freunde narrativer Spiele.

Bloober Team

Observer

Die polnischen Horrorspezialisten Bloober Team (Layers of Fear) haben sich 2017 mit dem dieses Jahr verstorbenen Rutger Hauer ein wahres Urgestein des Cyberpunk prominent an Bord geholt – immerhin verkörperte der Niederländer in Blade Runner höchst ikonisch den Replikanten Roy Batty. Im First-Person-Abenteuer Observer leiht er dem Protagonisten seine Stimme und seine leicht nuschelige, brummige Performance passt perfekt zur Handlung dieser Mischung aus Noir-Detektivthriller, Horror und Cyberpunk. Ein "faszinierendes Science-Fiction-Spiel mit Horrorelementen … das durch zahllose Details und beeindruckend inszenierte, surreale Visionssequenzen überzeugen kann", lautete damals das Fazit der STANDARD-Rezension.

Mode 7

Tokyo 42

Mal ehrlich: "Cyberpunk" ist mit seinem schon klischeehaften Bildern von verregneten Hightech-Slums, verdreckten Computern und waffenstarrenden Körpermodifikationen meist nicht mehr als eine spezielle Sorte Fantasy-Tapete. Umso origineller, wenn Spiele mit diesen Konventionen brechen und sich ganz eigene Ästhetik zutrauen. Das isometrische Actionspiel Tokyo 42 (2017) ist eine Hardcore-Sandkiste für Lego-Attentäter und verbindet eine im Kontrast absurd düstere Cyberpunk-Story mit quietschbunten Farben und zuckersüßer Ästhetik. Das STANDARD-Fazit damals: "Tokyo 42 ist ein beeindruckend hübsches Einzelstück, das hinter seiner poppigen Fassade mit einem Hauch zu viel spielerischer Härte aufwartet."

DevolverDigital

The Red Strings Club

Während in anderen Cyberpunk-Spielen das technische Hacken von abstrakten Datenbanken ganz zentral ist, verlangt das 2018 erschienen Point&Click-Adventure The Red Strings Club von uns, dass wir uns stattdessen im Social Engineering beweisen – eine schöne neue Idee. Das spanische Indiestudio Deconstructeam hat schon mit Gods Will be Watching bewiesen, dass es ein gutes Händchen für hintergründige Spiele im stylischen Retro-Look hat, dieses Cyberpunk-Abenteuer wartet mit spannender Handlung, philosophischen und ethischen Fragen und immer wieder überraschenden kleinen Spielmechaniken auf. Ein Spiel wie eine besonders gelungene Folge von Black Mirror.

PlayStation Europe

State of Mind

Dass das stylische Low-Poly-Adventure State of Mind beim Deutschen Computerspielpreis 2019 als "Bestes Serious Game" ausgezeichnet wurde, ist eines von vielen bizarren Missverständnissen rund um den deutschen Branchenpreis, denn das Science-Fiction-Abenteuer um KI, Überwachungsstaat und den Unterschied zwischen "echten" und "virtuellen" Lebewesen ist zwar durchaus "erwachsen", hat aber ansonsten eher nichts mit dem drögen Serious-Label am Hut. In Themen und Drastik durchaus differenzierter als das ebenso 2018 erschienene, mit nicht vergleichbarem Riesenbudget ausgestattete Detroit: Become Human, wirft State of Mind einen spannenden Blick auf klassische Cyberpunk-Themen – nicht als Popcorn-Blockbuster, sondern quasi als Programmkino-Version.

In einigen Monaten betritt mit Cyberpunk 2077 das bislang größte Videospiel mit dementsprechendem Setting die Bühne. Was sind Ihre liebsten Cyberpunk-Bücher, -Fillme und -Spiele, die es nicht in diese Liste geschafft haben? (Rainer Sigl, 29.9.2019)