Ein Bild vom 24. Juni 2019: Migranten im Schlauchboot im Ärmelkanal. Das Ziel: Großbritannien.

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Der Mann wollte nach Großbritannien, doch sein Leben endete zwischen Offshore-Windrädern in Belgien. Dort fischte die Polizei seine Leiche aus dem kalten Wasser des Ärmelkanals. Es wird angenommen, dass der 48-jährige Iraker Ende August an einem Strand in Nordfrankreich gestartet war und versucht hatte, die 34 Kilometer breite Wasserstraße nach England zu durchschwimmen. Um seine Brust hatte er sich als Schwimmweste leere Plastikflaschen geschnürt. Seine Identifizierung war möglich, weil er zuvor vergeblich versucht hatte, in Deutschland Asyl zu erhalten.

Der tragische Tod wirft ein Schlaglicht auf die zunehmend verzweifelten Versuche von Flüchtlingen und Migranten, nach Großbritannien zu gelangen, bevor der Inselstaat die Europäische Union am 31. Oktober verlassen wird. Seit Jahresbeginn sind laut Behördenangaben bereits 1.450 Personen abgefangen oder aufgefischt worden – ein Vielfaches des Vorjahres (586).

Höhere Asylchancen mit Minderjährigen

Vergangene Woche wurde zum Beispiel eine neunköpfige Gruppe von der französischen Gendarmerie gerettet, als sie um fünf Uhr früh zwei Kilometer vor dem Kap Gris-Nez abdriftete. Nach einer Motorpanne habe ihr Schlauchboot schon "halb unter Wasser" gestanden, teilte die Polizei mit. Neben den Erwachsenen seien auch zwei Kinder an Bord gewesen. Schlepper bemühen sich, Minderjährige mitzunehmen, weil dies die Asylchancen erhöhen soll.

Das Übersetzen mit Schlauchbooten, selbstgebauten Floßen mit Außenbordmotor oder Kajaks ist allerdings sehr riskant: Der Ärmelkanal ist die meistbefahrene Wasserstraße der Welt, und das Kielwasser von Supertankern mischt sich mit den starken Gezeitenwechseln und Strömungen.

Wie viele der Übersetzungswilligen reüssieren und wie viele ums Leben kommen, bleibt unbeantwortet. Wer es bis zu den Kreidefelsen von Dover schafft oder in den britischen Gewässern von Polizei- und Zollschiffen aufgenommen wird, kann in London zumindest einen Asylantrag stellen. Aktuelle Zahlen sind nicht erhältlich. Laut der bisher einzigen offiziellen Statistik der nordfranzösischen Meerespräfektur, enthüllt von der Zeitung "Nord Littoral", haben es im ersten Trimester dieses Jahres 435 Personen nach England geschafft; 257 sind dagegen von französischen Polizeischiffe vorher abgefangen oder gerettet worden.

Die Mär von erhöhten Sicherheitsbedingungen

Es ist kein Zufall, dass gerade jetzt immer mehr Flüchtlinge und Migranten Kopf und Kragen riskieren, um ins angeblich gelobte Großbritannien zu gelangen – dort haben sie Verwandte oder beherrschen zumindest die Sprache. Der angebliche Hauptgrund ist der Brexit. Wie die Hilfsorganisation Cimade festgestellt hat, tischen die Schlepper ihren "Kunden" die Mär auf, nach dem 31. Oktober werde England die Grenzen noch dichter machen, als sie es schon heute sind. Der Fährhafen von Calais ist – nicht zuletzt dank britischer Mitfinanzierung – seit langem fast hermetisch abgeriegelt; und das französische Portal des Eurostar-Bahnhofs erhielt im Juli einen zusätzlichen Stacheldrahtverhau.

Die französischen Behörden setzen zudem alles daran, dass kein Flüchtlingslager wie der 2016 geschleifte "Dschungel von Calais" mehr entsteht. Dafür haben sich entlang der nordfranzösischen Küste 200 kleinere Camps gebildet. Das größte in Grande-Synthe (Dünkirchen) wurde von der Polizei letzte Woche geräumt. Mehrere Hundert Personen kamen in Notunterkünfte. Geregelt ist damit nichts, wie eine Vertreterin des vor Ort tätigen britischen Hilfswerkes Care4Calais erklärte: "Die fortgesetzten Lagerräumungen ändern nichts an den tieferen Ursachen, dass so viele Menschen ihr Leben im Ärmelkanal riskieren."

Neues Abkommen mit Afghanistan

Zu diesen Ursachen zählt auch ein neues Abkommen zwischen Afghanistan und der EU, das die französische Nationalversammlung Mitte September ratifiziert hat und das Rückführungen in das kriegsversehrte Land erleichtert. Die Asylsuchenden, die den Ärmelkanal mit Booten zu überqueren versuchen, stammen nur selten aus Afrika, sondern eher aus dem Mittleren Osten – Iran, Pakistan, Irak und eben Afghanistan. Sie werden von den Schlepperbanden ähnlicher Provenienz anvisiert und müssen für eine Überfahrt rund 3.000 Euro zahlen.

Der französische Innenminister Christophe Castaner hat in letzter Zeit die Aushebung von mehreren Dutzend Schlepperbanden verkündet. Derzeit stehen in Boulogne zudem zwei Taxifahrer vor Gericht, die erwischt wurden, als sie beim Kap des Oies mehrere Iraner zu Booten verhelfen wollten. Im Mai war auch ein Schiffsverkäufer aus dem nahen Dêulémont verurteilt worden.

Die britische Polizei gab diese Woche die Verhaftung von 23 Menschenhändlern am Ärmelkanal bekannt. Auch sie versuchten aus dem britischen EU-Ausstieg Kapital zu schlagen. Dabei steht nicht einmal fest, dass die von ihnen geschürte Torschlusspanik begründet ist: Noch nie Mitglied des Schengenraums gewesen, muss Großbritannien seine Grenze für den Personenverkehr wegen des Brexits an sich gar nicht verstärken. (Stefan Brändle aus Paris, 26.9.2019)