Wenn Benni (Helena Zengel) schreit und tobt, versagen alle Routinen.

Foto: Yunus Roy Imer

Benni braucht einen anderen Rahmen. Sie ist ein "Kampfzwerg", sagt ein Betreuer einmal von ihr. Das ist noch fast freundlich gesagt. Benni ist ein neunjähriges Mädchen, das mit seiner Aggression so große Problem schafft, dass es einen Titel aus der Sozialarbeit verpasst bekommt: Es ist ein Systemsprenger. So heißt auch der Film von Nora Fingscheidt, der von Benni erzählt. Der Titel ist zugleich eine Art Rätsel, denn die Systeme, die Benni zu sprengen droht und auch immer wieder an die Grenze ihrer Möglichkeiten bringt, müssen erst bestimmt werden.

Eine Wohngruppe nach der anderen

Das erste ist das System der Familie. Hier hat alles seinen Ursprung, ohne dass mit einer Rückkehr etwas zu retten wäre. Bennis Mutter kommt mit dem Leben nicht gut zurecht, die älteste Tochter muss das ausbaden. Benni braucht dauernd einen neuen Rahmen, sie "sprengt" eine Wohngruppe nach der anderen, sie macht Fortschritte in einem Therapieexperiment im Wald und bringt dann ihren Therapeuten in Schwierigkeiten. Sie wird verdrahtet, bekommt Medikamente, verbringt immer wieder eine Nacht im Krankenhaus, und am Horizont wartet eine Versorgung, für die sie noch zu jung ist: stationäre Psychiatrie. Das würde nichts anders bedeuten als: Man schließt sie weg.

Damit es dazu nicht kommt, suchen die Menschen, die sich um sie kümmern, eine "langfristige Lösung". Für Benni wäre die einzige langfristige Lösung "Mama", aber gerade weil sie so verzweifelt daran glaubt, macht sie diese Lösung auch selbst unmöglich. Es gibt keinen Punkt null in ihrer Existenz, von dem aus sie noch einmal neu beginnen könnte.

Systeme und Routinen

Im Februar dieses Jahres präsentierte Nora Fingscheidt Systemsprenger auf der Berlinale und wurde dort mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Vor wenigen Wochen wurde der Film als deutscher Kandidat für die Oscars in der Kategorie "Best International Feature Film" nominiert. Fingscheidt findet in Benni eine Figur, an der man eigentlich grundsätzlich verzweifeln könnte. Doch sie zeigt eben auch die Systeme um sie herum. Sie zeigt die Routinen, auf die Benni trifft.

"Ich muss jetzt leider weitermachen", sagt die Ärztin im Krankenhaus und lässt den Betreuer Michael Haller (Albrecht Schuch, bekannt aus Bad Banks) einfach stehen. Er sieht Benni in diesem Moment hinter Glas, festgeschnallt, sediert. Dieser Blick aus den leeren Augen des Kindes auf eine verschlossene Tür ist in diesem Fall das Echo seiner gescheiterten therapeutischen Bemühungen.

Zu diesem Blick kehrt Fingscheidt immer wieder zurück, wie in einer erzählerischen Kontraktion, in der Benni dann aber nicht apathisch wird, sondern Kraft zu sammeln scheint für den nächsten Ausbruch.

Schmerzhafte Intensität

Selbst in relativ konsequent erzählten, harten Sozialdramen wie ab und zu bei Ken Loach (Ladybird, Ladybird) gibt es Reste geläufiger Dramaturgien, die zu mindest in Ansätzen so etwas wie Fortschritte erkennen lassen. In Systemsprenger sind die drei oder fünf Akte, in die Drehbücher gern unterteilt werden, allenfalls in Ansätzen zu erkennen, es gibt keine retardierenden Momente, auf die dann ein besonders befriedigender Fortschritt folgen könnte, sondern vor allem das verstörende Beharren von Benni auf ihrer Not.

Der Soundtrack führt noch am ehesten in das Innere dieser scheinbar unerreichbaren Seele, mit schmerzhafter Intensität dargestellt von Helena Zengel. Fingscheidt setzt mit dieser treibenden Musik aber nur Akzente. Sie illustriert nicht. Auch das ist angemessen, wie fast alles in einem Film, der zuletzt sogar einen Hinweis gibt, dass Benni auch noch Sprengkraft für ein anderes System hat: für ein Kino, das zwischen Zeigedrang und Erzählkonvention selten ein Bewusstsein für die Grenzen seiner Möglichkeiten verrät. Hier werden sie zumindest als Sprünge im Sicherheitsglas angedeutet. (Bert Rebhandl, 25.9.2019)